Zeitzeugenberichte - geteiltes Deutschland -

 

Klaus

 

April-Mai 1953, Monate der Erinnerung an Krieg und Schicksal

Im April 1953 bin ich konfirmiert worden. Die Erinnerung lässt mich heute, nach 50 Jahren, amüsiert daran zurück denken. Wir als Freunde waren stolz, mit knapp 15 Jahren erstmals einen Anzug tragen zu dürfen. In meinem Fall war dieser Anzug für mich aufgearbeitet. Ursprünglich gehörte er meinem Opa, saß mir aber sehr gut. Am folgenden Sonntag war es selbstverständlich, sich im Anzug auf der Straße zu treffen und das Erlebnis der Konfirmation aber auch die jeweiligen Geschenke gebührend zu bestaunen und darüber zu diskutieren.

Nie werde ich die Situation vergessen, die mich völlig unvorbereitet traf. Einer meiner Freunde rief laut, und zeigte dabei auf meine schöne Anzughose, du hast dich ja vollgepinkelt. Verdutzt schaute ich, und natürlich alle anderen Freunde, auf die Hose. Tatsächlich konnte man in der Sonne  Urinflecken sehen. Entsetzt, ohne das mir eine vernünftige Erklärung einfiel, rannte ich wutschnaubend und beschämt nach Hause. Meinen Eltern habe ich erbittert Vorwürfe gemacht, den Anzug sofort ausgezogen und geschworen, diesen nie wieder anzuziehen, obwohl das Jackett hervorragend saß. Die sehr lahme Entschuldigung, dass man das nicht gesehen hätte, aber bekannt war, dass mein Opa unter Blasenschwäche litt, wurde von mir nicht akzeptiert, die Blamage war zu groß.

Ende April erhielten meine Schwester mit Mann und zwei Kindern endlich eine eigene Wohnung in einem anderen Stadtteil zugewiesen. Bis dahin hatten sie gemeinsam mit dem Rest der Familie in unserer Wohnung gelebt und zusätzlich ein weiteres Zimmer in der Nachbarwohnung der gleichen Etage hinzu mieten können. Obwohl wir recht beengt zusammen gelebt haben, ist mir diese Zeit als sehr lebendig und abwechslungsreich in Erinnerung geblieben. Am 13. Mai 1953 sollte sich für die ganze Familie das Leben grundlegend verändern. Mein Schulweg war relativ weit, so dass ich täglich mit dem Fahrrad zur Schule fuhr.

Gegen Mittag des 13. Mai, ich war auf dem Weg nach Hause, fiel mir eine ungewöhnlich große Menschenmenge auf, die alle das gleiche Ziel zu haben schienen. Kurz vor der Ravensberger Straße hielt mich ein mir bekannter Junge an und sagte mir: in euer Haus ist ein Flugzeug gestürzt. Auf meine Frage, ob viel passiert wäre, erwiderte er: nur das Dach ist etwas beschädigt. Beruhigt fuhr ich weiter, zumal ich mir einfach nichts unter einem Flugzeugabsturz vorstellen konnte. In Höhe der Ravensberger Straße hielt mich plötzlich mein Onkel Erich auf. Dieser wohnte derzeit im Eckhaus Ravensberger Straße / Teutoburger Straße. Seine Tochter Erika war gemeinsam mit mir konfirmiert worden. Er sagte zu mir: komm zuerst einmal zu uns hoch und esse mit uns. Mir war gar nicht danach, zumal ich nun wissen wollte, was tatsächlich mit unserem Haus, und damit mit meiner Mutter, passiert war. Er ließ sich aber nicht erweichen, so dass ich mit ihm in die Wohnung ging. Die Familie, meine Tante und die beiden Töchter, saß bereits am Mittagstisch und wartete. Es gab Milchreis. Ich und Milchreis. Bis heute kann ich dieses Zeug nicht runterkriegen, auch nach gutem Zureden nicht. Die Familie war entsetzt, ließ sich von mir über meine Einstellung zu Milchreis aber überzeugen, so dass ich endlich, zusammen mit meinem Onkel, Richtung Ehlentruper Weg gehen konnte. Mein Fahrrad habe ich geschoben.

Der Fußweg von der Ravensberger Straße zum Ehlentruper Weg beträgt höchstens 4 Minuten. Dabei kamen wir am Städtischen Krankenhaus und an der zweizügigen Volksschule vorbei, beide liegen im Radius von höchstens 400 - 500 Metern von meinem Elternhaus entfernt. Mein Elterhaus steht, ich muss eindeutiger sagen: stand im Ehlentruper Weg, zwischen den Straßen: Bielstein- und Teutoburger Straße. Es handelte sich um ein 8-Familienhaus in der typischen Bauweise des frühen 20. Jahrhunderts errichtet. Die Toilette für die jeweiligen Wohnungen einer Etage befand sich eine halbe Treppe tiefer. Alle Bewohner waren berufstätig. Zum Zeitpunkt des Flugzeugabsturzes waren lediglich meine Mutter und ein älteres Ehepaar, alle aus den Parterre-Wohnungen, zu Hause. Bei dem zu Hause gebliebenen Herrn Dirker handelte es sich um einen Schneidermeister, der in seiner Wohnung sein Atelier hatte und arbeitete.

Je näher wir dem Ehlentruper Weg kamen, um so größer wurde die Menschenmenge. Der Ehlentruper Weg war von beiden Straßeneinmündungen von der Polizei abgesperrt worden. Mühsam haben wir uns durch die murrende Menge gedrängt, immer mit dem Hinweis, ich wohne in dieser Straße. Den Polizisten an der Einmündung konnte ich mit dem gleichen Argument überzeugen, so dass mein Onkel und ich durchgelassen wurden. Mein erster Eindruck: eine große Anzahl von Feuerwehrwagen, ein unbeschädigtes Elternhaus, in dem allerdings alle Fenster jeder Etage geöffnet waren und an diesen offenen Fenstern lange Feuerwehrleitern standen. Aus den Fenstern der Nachbarhäuser schauten Neugierige, mir alle bekannt.

Als ich jedoch seitwärts an unserem Haus entlang schaute, sah ich voller Entsetzen, dass der ganze hintere Teil des Hauses eingestürzt war und die Feuerwehr immer noch Wasser in diesen Teil spritzte. Weiterhin konnte ich sehen, dass das kleine Hinterhofhaus, das zwischen meinem Elternhaus und dem Nachbarhaus gestanden hatte, völlig ausgebrannt war. Unsere Wohnung, die sich im hinteren Teil des Hauses befand, existierte nicht mehr. Dieser Teil des Hauses war wie ein Kartenhaus über drei Etagen zusammen gestürzt. Ja das Flugzeug hatte sich sogar bis unter den Kellerboden gebohrt.

Große Angst um meine Mutter ergriff mich, wo war sie? Ich hatte meinen Onkel völlig vergessen. Polizisten und Feuerwehrleute, die ich auf meine Mutter ansprach, konnten oder wollten mir nichts sagen. Auch Nachbarn wussten angeblich nichts. Schließlich sah ich meinen Vater, den man sofort nach dem Absturz von seiner Arbeitsstelle, er war kaufmännischer Angestellter der Anker Werke AG, hergerufen hatte. Von diesem erfuhr ich endlich, dass Mutter lebend aber verletzt aus dem Haus geborgen worden und inzwischen in das Krankenhaus Gilead in Bethel eingewiesen sei. Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Es mag kurz vor 13 Uhr gewesen sein, als ich meinen Freund Leo sah, der drei Häuser Richtung Bielsteinstraße auf der gegenüber liegenden Straßenseite wohnte. Diesen bat ich, mit mir zum Krankenhaus zu gehen, um mich nach meiner Mutter und deren Zustand zu erkundigen. Der Weg war recht weit, ca. 40 Minuten zu Fuß. An der Pforte des Krankenhauses fragte ich, ob ich meine Mutter besuchen dürfte, mit dem Hinweis des gerade geschehenen Flugzeugabsturzes. Auskunft und Besuch wurden mir mit dem Hinweis, dass keine Besuchszeit sei, verweigert. Unverrichteter Weise mussten wir zu Fuß zurück gehen, denn bis 15 Uhr waren es noch gut anderthalb Stunden, solange wollten wir nicht warten. Inzwischen war mir klar geworden, dass ein großes Unglück geschehen war. Je näher wir nach Hause kamen, um so voller Menschen wurde es. Mit jedem Schritt wurde mir bewusster, du hast kein Zuhause mehr. Auch dachte ich, Gott sei Dank, dass meine Schwester mit Kindern, die ja normalerweise zu Hause gewesen wären, denn die Kinder waren zwei und 1/4 Jahre alt, vor weniger als 10 Tagen die neue Wohnung bezogen hatten.

Zurück im Ehlentruper Weg fand ich nach einigem Suchen meinen Vater wieder und konnte von diesem Einzelheiten über Mutter erfahren. Offensichtlich haben die beiden Frauen im Hausflur miteinander geredet, denn wenn meine Mutter in der Wohnung gewesen wäre, wäre sie verschüttet worden und sicherlich umgekommen. Später habe ich direkt von meiner Mutter erfahren: sie hat ein sehr niedrig fliegendes Düsenflugzeug gehört, dann einen furchtbaren Krach. Aufgewacht ist sie im gegenüber liegenden Haus. Neben Platzwunden, einer schweren Gehirnerschütterung hat sie körperlich keine weiteren Blessuren davon getragen. Über viele Monate aber hat sie unter Schock gestanden und wollte, immer wenn niedrig fliegende Flugzeuge über die Stadt flogen, und das waren nicht wenige, unter ein Bett kriechen oder später in den Keller laufen. Nach Wochen des Krankenhausaufenthaltes kam sie zur Kur.

Zurück zum Tag des Unglücks. Vater und ich standen uns nun auf der Straße gegenüber und beratschlagten, wo wir die folgenden Nächte wohl schlafen könnten. Inzwischen war mein Schwager zu uns gestoßen, der als Polizist zum Ehlentruper Weg abkommandiert war. Dieser schlug vor, ich sollte bei meiner Schwester schlafen und mein Vater bei der Familie der Freundin meiner Mutter. Damit war die restliche Familie auseinander gerissen. Meine Mutter lag im Krankenhaus, ich wohnte bei meiner Schwester und mein Vater bei der Freundin meiner Mutter. Die Entfernung jeweils dazwischen gut 10 KM, und zur Schule war es sehr viel weiter mit dem Fahrrad. Hinzu kam, dass weder mein Vater noch ich etwas zum Anziehen besaßen, alles war verbrannt. Am nächsten Morgen musste ich alle meine Lehrer davon überzeugen, dass ich von dem Absturz betroffen war und darum keine Schulbücher mehr besaß. An die Schularbeiten hatte ich ohnehin nicht gedacht. Mittags bin ich wie gewohnt Richtung Ehlentruper Weg gefahren, bis mir einfiel, verdammt du musst ja zur Eichendorffstraße. Trotzdem bis ich nach Hause gefahren, auch um meine Freunde zu sehen, vor allem aber, um mir ein Bild von den Zerstörungen zu machen.

Die ganze Straße roch nach Verbranntem. Unser Haus wurde von der Polizei bewacht, da es noch am Tag des Unglücks zu Plünderungen gekommen war. Ich konnte den Polizisten überzeugen, dass dies mein Zuhause gewesen war und durfte das Haus betreten. Ja man konnte es betreten. Der ganze vordere Teil war unbeschädigt. Als ich allerdings durch unsere Korridortür ging, war der Rest durch Schuttmassen gesperrt. Ein Blick in mein Zimmer, das links der Wohnungstür lag, überzeugte mich, alles vernichtet. Ein Deckenbalken war quer vor das Bett gefallen, hatte die Schuttmassen aufgehalten. Der Kleiderschrank war eingedrückt, alle anderen Zimmer: Küche, Elternschlafzimmer, Wohnzimmer und Flur gab es nicht mehr. Die Gartenlaube, in der sich die Hausgemeinschaft seit dem Kriege immer traf, war zerstört. Das Haus im Hinterhof des Nachbarn war ausgebrannt. Das Düsenflugzeug muss schräg in das Haus gestürzt sein, denn ein Flügel hatte die Wand des linken Nachbarhauses durchschlagen, das wie eine offene Wunde aussah. Jetzt hörte ich von Freunden und Nachbarn, dass gerade in diesem Nachbarhaus viele Bewohner durch Brandwunden verletzt worden wären. In den Flügeln des Flugzeuges befinden sich die Tanks.

Bis auf den Piloten, von dem lediglich ein Oberschenkelknochen und der Rest eines Daumens gefunden worden war, hatte es keine weiteren Todesopfer gegeben. Von diesem Tage an bin ich, nachdem ich meine Schularbeiten erledigt hatte, immer zum Ehlentruper Weg gefahren, um meine Freunde zu sehen. Wenig später ist unser Haus als nicht mehr reparierbar abgerissen und wieder aufgebaut worden.

Nachdem meine Mutter aus dem Krankenhaus entlassen worden war und nach Ende ihrer Kur bekamen wir von der Stadt eine Wohnung zugewiesen, ganz in der Nähe der Wohnung meiner Schwester. Es war eine sehr kleine Wohnung. Vorstellen muss man sich ein Reihenhaus, in dessen erste Etage wir einzogen. Damals war dieses Haus allerdings als von zwei Familien zu wohnendes konzipiert. Mit der Hausbewohnerin und Tochter sind wir gut ausgekommen.

Erinnern kann ich mich, dass uns die Stadt einen finanziellen Vorschuss zur Verfügung gestellt hat, der mit der späteren Versicherungsleistung verrechnet wurde. Damit waren wir in der Lage, uns neu einzukleiden, mir meine leidigen Schulbücher und nach Einzug in die Ersatzwohnung einigermaßen vernünftige Möbel zu kaufen.

Nach gut einem Jahr sind wir zum Ehlentruper Weg zurück gezogen, in ein wunderschönes neues Haus. Allerdings nur wir und mein Onkel, als Eigentümer. Die Mieter waren alle neu. Das hat in der Presse zu erheblichen Vorwürfen geführt, die mich aber nicht sonderlich berührt haben. Ich habe in dem neuen Haus noch oft an meine Konfirmation und die Sticheleien meiner Freunde denken müssen. Ein Gutes hatte das Ganze: Der Konfirmationsanzug war wie alle anderen Dinge mit verbrannt, was für ein Glück.

Aufgezeichnet im Mai 2003