Zeitzeugenberichte - geteiltes Deutschland -

 

Karin 

Der 9. November 1989

1. Oktober 1989, Vorahnungen

Schon in den Osterferien 1989, als meine Cousine zum ersten Mal gemeinsam mit ihrem Mann – aber ohne ihre Tochter - in den Westen fahren durfte, hatten wir ausgemacht, sie auch in diesem Jahr wiederum in den Herbstferien zu besuchen. Ich hatte im August desselben Jahres meine Stelle als Schulleiterin angetreten und wegen der Fülle der neuen Aufgaben nicht allzu viel Zeit gefunden, mich mit den politischen Fragen dieser Wochen und Monate zu beschäftigen. Zwar verfolgten wir im Fernsehen die Sendungen über die Montagsdemonstrationen ebenso gebannt wie die zur Prager Balkonszene (drei Jahre später haben wir uns die Deutsche Botschaft in Prag angesehen, um die Situation noch einmal nachempfinden zu können), dennoch machten wir uns über die mögliche Brisanz und eventuelle Gefahren vor unserer Abreise keine großen Gedanken. Daher wunderten wir uns über die Frage von Freunden: „Wie, jetzt wollt ihr in die DDR fahren? Wer weiß, ob ihr da wieder rauskommt. Die Russen werden sicher wieder ihre Panzer schicken. Vielleicht gibt es Krieg." So schwarz wollten wir einfach nicht sehen. Außerdem hatten wir unser Kommen zugesagt, und unsere Verwandten mussten die Situation ja auch aushalten. Wir fuhren also.

Am Grenzübergang Helmstedt warteten diesmal kaum Autos. Die Transitstraßen waren ungewöhnlich leer. In Eggersdorf jedoch wirkte alles ruhig wie immer. In dieser Gemeinde wohnten ganze Abteilungen der NVA, die in der Nachbarstadt Strausberg, dem Sitz des Verteidigungsministeriums, stationiert waren. Hier rührte sich kein sichtbarer Widerstand.

Am Tag nach unserer Ankunft fuhren wir nach Potsdam. Wir besichtigten das Schloss Sanssouci und konnten im kleinen Buchladen des Schlosses ein zauberhaftes Lenné-Poster erwerben. Dann gingen wir durch Gärten und Park spazieren und erkundeten alles. Wir waren völlig allein und genossen die heitere, herbstliche Stimmung dieser gestalteten Park-Landschaft mit ihren besonderen Häusern und Skulpturen. Wir konnten damals nicht ahnen, wie einzigartig diese Situation war. Geradezu elitär!

Als wir schließlich zum größten Gebäudekomplex in Sanssouci, dem Neuen Palais mit seinen gegenüber liegenden Wirtschaftsgebäuden, kamen, veränderte sich unsere Stimmung jedoch. Wie vorher schon sahen wir auch hier keinen einzigen Menschen, weder draußen, noch drinnen. Teile des Bauwerks waren eingerüstet, aber es gab keine Spuren irgendeiner Bautätigkeit. Es gab auch keine Möglichkeit, die intakten Gebäude zu besichtigen. Den Marmorsaal konnten wir nur schemenhaft von außen durch die Fenster wahrnehmen. So langsam fingen die Stille und Verlassenheit an, morbide zu wirken, einen Hauch von Untergang zu verbreiten.

In Potsdam selbst war das sehenswerte, ehemals propere Holländerviertel zum großen Teil herunter gekommen und marode. In einem Haus allerdings regte sich etwas. Wir durften eintreten. Hier werkelte fröhlich ein Liebhaber dieser Architektur, der sein Haus vor kurzem gekauft und die Bausubstanz in Eigenarbeit schon fast vollständig in Ordnung gebracht hatte. Zu Recht war er stolz auf seine Leistung. Sein Haus ließ schon die zukünftige Schönheit ahnen.

Merkwürdigerweise erinnere ich mich nicht mehr an die Gespräche mit unseren Verwandten in dieser Zeit. Nur daran, dass mein Mann fest überzeugt war und das auch auf verhaltene Fragen hin äußerte, dass sich die Ostdeutschen gar keine Sorgen um ihre desolate Wirtschaft machen müssten. Alle westdeutschen Unternehmen hätten fertige Pläne in der Schublade liegen für den Fall, dass es zu einer Wiedervereinigung käme. Doch an diese Möglichkeit glaubte keiner wirklich, entsprechend fatalistisch war die Stimmung drüben.

Auf jeden Fall wollten wir aber Silvester gemeinsam feiern, das stand fest.

Auf der Rückfahrt erlebten wir dieselbe Situation wie hin: kaum Verkehr, aber auch keine Soldaten oder sonstige militärische Bewegungen. Alles verlief reibungslos.

2. Die Wende, die Öffnung der Mauer

Nach den Herbstferien wuchs die Spannung weiter. Die Entwicklung beschleunigte sich. Jeden Tag verfolgten wir die Bilder im Fernsehen. Und sahen und hörten am 9. November live Schabowski mit seinen etwas ungefähren Worten von der Reisefreiheit. Wir trauten unseren Ohren nicht.

Das kann nicht wahr sein! Fassungslosigkeit!

Aber tatsächlich: Kurz darauf die ersten Trabis in Westberlin, später auf allen Straßen. Die Menschen auf der Mauer! Und überall der gleiche Ausruf: „Wahnsinn!" Diese Fernsehbilder hätten wir als Endlosschleife immer wieder sehen können.

Es waren Tage, die zu den bewegendsten meines Lebens gehören.

Wie gerne hätten wir unsere Freude mit unseren Verwandten geteilt! Aber keiner von ihnen drüben hatte Telefon.

Neugier, Sehnsucht, Entdeckungen und Kindheitserinnerungen

Nun trieben uns Neugier und Sehnsucht, dahin zu fahren, wo meine Mutter ihre Jugendjahre und ich einige Kindheitswochen verbracht hatte: nach Mecklenburg-Vorpommern.

Da sich die Ereignisse damals aber fast überschlugen und für uns eine sehr intensive Zeit der Begegnungen zwischen Ost und West folgte, verschwimmen die Daten der folgenden Wochen und Monate in meinem Gedächtnis.

Wann genau wir also nach Mecklenburg gefahren sind, ist mir entfallen. Ich weiß nur noch, dass es eine der ersten Reisen nach der Maueröffnung war. Und ich weiß auch noch, dass wir bei den Grenzposten an einer Landstraße nur flüchtig unsere Ausweise zeigen mussten. Und ich erinnere mich daran, dass wir am Grenzübergang Helmstedt auf einer schnell und provisorisch aufgeschütteten, geteerten Trasse einfach um die gewaltige Anlage herum kurven konnten.

Und irgendwann fuhren wir dann auch über wunderschöne, aber holprige Alleen.

Ich tauchte tief in die Vergangenheit ein, die Erzählungen meiner Mutter wurden wieder lebendig: ihr Elternhaus in Konsages, die Bahnstation Salchow bei Anklam, Kreis Greifswald. Die verklärten Bilder wurden jetzt konkret: Von Anklam allerdings waren wir bei der ersten Durchfahrt ziemlich enttäuscht. Salchow war auch nicht sehenswert, aber doch noch genau so, wie ich es in Erinnerung hatte. Die Häuser sahen nur älter aus. Von hier aus hatte uns unser Onkel immer mit der Kutsche oder dem Pferdeschlitten abgeholt. Bis auf eine einzige Ausnahme: In den letzten Kriegsmonaten, als die Fahrpläne nicht mehr funktionierten, hatten meine Mutter und ich bei Dunkelheit zu Fuß an den Gleisen entlang nach Konsages laufen müssen. Daher wusste ich, dass wir uns jetzt auch an die Gleise halten mussten, wollten wir Konsages finden. Diese Orientierung funktionierte tatsächlich, und wir erreichten auf einem achsenbrecherischen Feldweg das Grundstück meiner Großeltern. Bis 1961 hatte hier der Onkel, der den Hof geerbt hatte, mit seiner Familie gelebt. Dann musste er in den Westen fliehen, weil er sich mit der Enteignung nicht hatte abfinden und den Mund nicht hatte halten können. Wir wussten, dass das Haus von der LPG als Schweinestall genutzt worden war. Wir erwarteten also einen verwahrlosten Zustand und waren daher nicht enttäuscht. Aber das großelterliche Haus stand noch, und im ehemaligen Wohnzimmer konnte man sogar noch das Licht anknipsen, eine Glühbirne hing von der Decke herunter.

Dieser Moment des Wiedererkennens, er war pragmatisch und rührend zugleich.

Und auch ein Abschied. Das war’s!

Jetzt galt es noch, den Friedhof zu finden. Auch das gelang, und wir standen vor den gepflegten Gräbern meiner Großeltern und lasen die Inschriften auf dem Grabstein. Es war ein kleiner, karger Dorffriedhof. Er passte zu dem arbeits- und entbehrungsreichen Leben dieser beiden Menschen.

Im Nachbarort Klein-Bünzow lebte noch der jüngste Bruder meiner Mutter mit seiner Frau. Vielleicht waren sie zu Hause? Wir fuhren hin, immer wieder erstaunt, dass es diese verlorenen Straßen und Häuser wirklich gab. Und klopften an die Tür. Welche Überraschung und Freude! „Das kann doch gar nicht wahr sein, dass ihr hier seid!"

Später haben wir alle Verwandten, auch die Cousinen in Anklam, ausführlicher besucht, mit Voranmeldung.

Für die Übernachtungen hatten wir bei unserer ersten Fahrt nach Mecklenburg-Vorpommern ein Zimmer im einzigen Hotel in Bad Doberan gefunden. Natürlich noch mit reinstem DDR-Standard, der sich insbesondere bei den weichen Matratzen unangenehm bemerkbar machte. Bald darauf wurde das geschichtsträchtige Haus von seinem Düsseldorfer Besitzer mit viel Geschmack renoviert, bekam allen westlichen Chic und wurde unangemessen teuer. Inzwischen gehört es zu den Romantik-Hotels.

Eine Weile später drängte es uns, endlich einmal Dresden zu sehen. Zum ersten Mal war es möglich, Hotelzimmer im Osten über unser Reisebüro zu buchen. Doch es gab kaum welche. Es war die große Zeit der Privatquartiere! Ein Hotelzimmer konnten wir zu diesem Zeitpunkt nur in Chemnitz im Kongresshotel bekommen und von dort aus nach Dresden fahren. Bis auf die ersten Veränderungen bei den Straßenbaumaßnahmen war noch alles - wie hätte es auch anders sein können? - wie in der DDR: die Zimmer, das Frühstücksbuffet. Auch der massige Kopf von Karl Marx thronte natürlich noch an seinem Platz. Aber die Stadt hieß nicht mehr Karl-Marx-Stadt. Das beglückte uns.

Wir konnten einfach nicht genug kriegen, fast wie in Tolstois Geschichte „Wie viel Erde braucht der Mensch?". Daher lag es nahe, auf dem Rückweg von Chemnitz einen Abstecher nach Weimar zu machen. Endlich das Goethe- und Schillerhaus sehen und die Innenräume auf sich wirken lassen, dann eine Pause auf dem Marktplatz machen und das Hotel „Elephanten" für ein anderes Mal ins Auge fassen.

Auch Neuruppin, meine Kindheitsstadt, Stralsund und Güstrow gehörten zu unseren ersten Zielen. Während aber Neuruppin noch von den Spuren der Stationierung russischer Truppen verschandelt und Stralsund noch zu sehr vom Verfall gezeichnet war, um ansehnlich wirken zu können, war Güstrow mit seinem Schloss und den Barlachwirkorten schon eine reizvolle Entdeckung.

Neuruppin habe ich erst im Fontanejahr 1998 genießen können. Ebenso Kloster Chorin. Und danach all die Ostseeorte, von denen meine Mutter immer geschwärmt hatte: Kap Arkona auf Rügen, Ahlbek, Heringsdorf, Bansin.

Zur Abrundung jener Reise gehörte auch die Besichtigung der V-2-Raketenabschussbasis in Peenemünde, verbotenes Gelände während der Kriegsjahre, seit Jahren aber Museum mit vielerlei – teilweise rostigen - Fluggeräten, einem sowjetischen U-Boot und ausführlichen Informationen zur Nutzung während der Nazi-Zeit. Nochmals wurden uns die Zusammenhänge bewusst, die zu Deutschlands Teilung geführt hatten!

Danach kamen aber auch wieder persönliche Erinnerungen zu ihrem Recht: In Peenemünde hatten während der Kriegsjahre zwei Tanten von mir mit ihren Familien gelebt, und wir hatten sie des Öfteren besucht. Ich wollte meinem Mann unbedingt die Stelle zeigen, an der wir damals in der Ostsee gebadet hatten. Ob es die richtige war? Ich weiß es nicht, aber die Kiefern im Sand sahen genau so aus wie früher, und der menschenleere Strand im Abendlicht war auch jetzt wunderschön.