Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -

Heinrich  

 Erinnerungen an die Jahre 1933 – 1949

Meine ersten Erinnerungen hier in Bad Salzuflen datieren wohl von 1932/33, jedenfalls noch vor der sogenannten „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933, denn wir versteckten uns hinter Heizungskörpern, weil draußen angeblich geschossen wurde. Meine Mutter meinte, es wären Kämpfe zwischen Kommunisten und SA, ich selbst glaube aber eher, es waren Freudenböller anlässlich des Sturzes der Weimarer Republik. Da es in Bad Salzuflen keine Straßenschlachten wie in Berlin und einigen wenigen anderen Großstädten gegeben hat, ist wahrscheinlich die Fantasie mit ihr durchgegangen, vielleicht weil sie auch, aus dem Ruhrgebiet kommend, erst vor vier Jahren hierhin gezogen war.  

Mein Vater war Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Er hatte diesen Beruf in Düsseldorf gelernt, obwohl er aus einem kleinen lippischen Dorf stammte. Das hatte ihn auch befähigt im ersten Weltkrieg Stabszahlmeister zu werden. Er gehörte zum deutschen Expeditionskorps, das unter dem Kommando von General Liman von Sanders Pascha mit unseren damaligen osmanischen, türkischen Verbündeten durch das spätere Palästina den Suezkanal von Osten besetzen wollte. In dieser Funktion leitete er bis zur Kapitulation im Oktober 1918 die Kriegskasse Mossul. Er war vom letzten türkischen Sultan sowie von seinem Landesherrn, Fürst Leopold IV, hochdekoriert worden, neben einigen anderen Orden wie EK und ein bulgarisches Kreuz. Dieses alles ließ ihn schnell eine stark nationalistisch geprägte und später eine parteipolitisch ausgerichtet Politik vertreten. Er trat bereits 1930 in die NSDAP ein, wurde Kreisamtsleiter in Detmold und vertrat die kaufmännischen und industriellen Interessen bei den meist wirtschaftlich unerfahrenen Parteimitgliedern, denn er hatte sich mittlerweile auch noch eine kleine Sperrholzfabrik zugelegt.  

Später geriet er aus ideologischen Gründen mit dem Kreisleiter Wedderwille über Kreuz, der in seinen Augen „nur“ Malermeister war. Ich weiß noch von den wiederholten Besuchen dieses Mannes bei uns auf der Rudolf Brandes Allee. Meine Mutter weinte oft, denn der Kreisleiter hatte sie gewarnt, dass wenn sie ihren Mann nicht auf den rechten parteipolitischen Kurs zurückbringe, sie beide gefährdet seien. Es kann sich aber nicht um grundsätzliche Fragen gehandelt haben, sie betrafen wohl eher die wirtschaftliche Kompetenz vieler Parteigrößen. Später ist er dann auch versetzt worden. Wir werden einige Jahre danach hierauf zurückkommen.  

1934 wurde ich eingeschult und zwar in dem Gebäude, das man heute die „Gelbe Schule“ nennt. Damals hieß sie einfach Volksschule. Mein Vater war  als Lipper natürlich ev. reformiert und so bin ich auch getauft und konfirmiert worden. Es gab aber auch zeitweilig noch eine katholische Volksschule an der Grabenstraße, zu der auch die katholischen Kinder der damals noch getrennten Verwaltungseinheit (Stadt) Schötmar gehen mussten. Irgendwann wurde aber diese Trennung aufgeben, denn der Freistaat Lippe, dessen Status noch nicht einmal von den Nazis angetastet wurde, hatte eine andere Schulgesetzgebung als z.B. Herford, das zu Preußen gehörte, Provinz Westfalen.  

In wie weit die neuen Machthaber aber die Erziehung nationalsozialistisch gestalten sollten, habe ich eigentlich erst auf der sogenannten Oberschule auf der Herrmannstraße gemerkt. Vielleicht lag es aber auch an den beiden Lehrern, die ich in der Grundschulzeit hatte, sie waren vorwiegend religiös gebunden. In unserer Klasse befanden sich zwei jüdische Mitschüler, beide blond und blauäugig, die mit mir 1938 im April auf die Oberschule wechselten. Auch dieses klappte problemlos, wenn auch der Direktor dieses Institutes ein SA-Führer mit niederem Rang war. Wir mussten alle nur eine Eignungsprüfung ablegen, die meine jüdischen Mitschüler mit Glanz bestanden. Sie beide waren Kinder von Kleinstkaufleuten und niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie etwas anderes gewesen seien, wenn sie nicht an Sonnabenden gefehlt hätten.  

Gleichzeitig mit dem Wechsel zur Oberschule, den Begriff Gymnasium hatten die Nazis als Fremdwortgegner abgeschafft, kam die Aufnahme in das DJ – Deutsches Jungvolk – als Vorstufe zur HJ – Hitlerjugend -. Wir waren 10 Jahre alt geworden und ich meine, der Eintritt wäre noch freiwillig gewesen, während der bei Kriegsausbruch etwas über ein Jahr später, obligatorisch wurde. Man musste eine Mutprobe und körperliche Ertüchtigungsprüfung ablegen und bekam anschließend das Recht, ein sogenanntes Fahrtenmesser zu tragen. Die ideologische Ausrichtung war aber gering, denn einmal wir waren zu jung (10 Jahre) und zum anderen bestand unser Hauptinteresse an Spielen. Und dazu eignete sich ganz besonders die Salzufler Umgebung mit ihren herrlichen Waldgebieten und dem leicht hügeligen Charakter, wenn auch die Spiele –Geländespiele- sehr schnell vormilitärischen Charakter annehmen konnte, wie Karten lesen,  Gebrauch von Kompass und Messtischblättern etc. Bald kam auch noch die Schießausbildung dazu, Kleinkaliber zwar, aber alles belohnt durch das Tragen von Abzeichen (HJ Leistungs- + Schießabzeichen).  

Seinerzeit erfolgten die Versetzungen noch zu Ostern deshalb fand der Schulwechsel auch im April 1938 statt. Wichtig wegen der nachfolgenden Ereignisse. Im November wurde der deutsche Diplomat vom Rath in Bern von einem jüdischen Attentäter erschossen, der die Welt auf die schrecklichen Dinge, die bereits im Reich, mehr oder weniger verborgen zwar, passierten, aufmerksam machen wollte. Dieser Mord wurde von den Nazis und den Behörden zum Anlass genommen, eine schreckliche Verfolgungsjagd auf alle Juden und auf alles Jüdische zu starten, die sogenannte Reichskristallnacht, so genannt, weil so viel Porzellan und Kristall von aufgestachelten Horden zerschlagen wurde.  

So auch in Bad Salzuflen. Das Mahnmal war aber die Synagoge in der Mauerstraße, die brennenden Reste mussten wir uns am darauffolgenden Vormittag anschauen. Der Oberstudiendirektor soll dann am folgenden Morgen die jüdischen Schüler der Anstalt in sein Amtszimmer bestellt haben, wo er ihnen eröffnete, dass ihres Bleibens nicht länger an einer deutschen Schule sei. Ich habe meine Klassenkameraden danach nie wiedergesehen. Das war ein ziemlicher Einschnitt, den ich bis heute nicht vergessen haben.  

Beide nun ehemaligen Mitschüler hatten Verwandte in London, wohin sie fliehen konnten und wo sie es weit gebracht haben,. Einer von ihnen, Mikrobiologe, wurde Master of Christ College in Cambridge, Professor und von Königin Elisabeth geadelt. Ein  Beispiel dafür, welcher Verlust dem deutschen Volk entstand, dass man viele befähigte, ja sogar begnadete Künstler und Wissenschaftler ins Ausland jagte.  

Die Eltern meines Schulkameraden hatten nicht dieses Glück. Sie sind dann später in Polen umgekommen. Sie wurden wahrscheinlich in den Jahren 1940/41 verhaftet und deportiert. Aber Kinderinteresse wendet sich auch schnell wieder anderen Dingen zu. Ich begann Karl May zu lesen, was meine Eltern überhaupt nicht gern sahen, aber ich hatte einen Freund, der mir viele Bücher lieh, die den Blick über die Grenzen lenkten. Der Vater meines Freundes, ein sehr christlicher Mann stand dem Regime sehr kritisch gegenüber. Er hat mir gegenüber manchmal die Bemerkung gemacht: „was soll das Ausland davon denken?“ wenn die Massen der Schreihälse im Berliner Sportpalast während oder nach einer Hitler- oder Goebbelsrede tobten und schrieen. Häufig mussten wir uns diese Reden im Saal des Salzufler „Luisenhofs“- heute HV der Maritim-Hotelgesellschaft – anhören. Auch gab es für 20 Pfennig einmal im Monat sogenannte Jugendfilmstunden, während denen immer Juden- oder Britenkritische Filme gezeigt wurden. So z.B. „Jud Süss“, „Ohm Krüger“ (Burenkriege), „Mein Leben für Irland“ (Osteraufstand Dublin 1916), mehrere Veit Harlan-Filme, in denen seine Frau Kristina Söderbaum als „Reichswasserleiche“ häufig auftrat. Josef Goebbels hatte als Reichspropagandaminister klar erkannt, welche Massenbeeinflussung durch das Medium Film seinerzeit möglich war. Auch wurden ausländische Schauspielerinnen wie die Ungarin Marika Rökk oder die Schwedin Zarah Leander bewusst eingesetzt, um auch in unpolitischen Filmen die Massen in die Kinos zu locken, die dann wenigstens die „Wochenschau“ sahen, in denen schon ab 1940 die Bombenangriffe auf London und anderer englische Städte wie Bristol, Liverpool, ja sogar Swansea (Wales) bejubelt wurden und untermalt von einem Marschlied „Bomben auf Engeland“.

Den Kriegsausbruch im September 1939 erlebten wohl die meisten Menschen als wenig dramatisch, da sie durch wochenlange, gesteuerte Propagandasendungen und Artikel darauf vorbereitet wurden. Diese Vorbereitungszeit fiel in die großen Sommerferien, in denen ich mit meiner Tante verreist war. In den ersten Schultagen danach erfolgte dann der Überfall auf Polen, Frankreich und Großbritanien setzen ein Ultimatum. Dieses wurde natürlich nicht beachtet und so waren wir mitten im großen Krieg. Wir bekamen schulfrei, aber schon auf dem Nachhauseweg konnten wir in der Kleinstadt Salzuflen spüren, dass die meisten Menschen bedrückt waren und meine Eltern mir sehr pessimistisch  in der Haustür entgegen traten.  

Zwei oder drei Tage vorher hatten wir an einem Sonntag die ersten Lebensmittelmarken erhalten, die dann sofort in Kraft traten. Jedenfalls Jubel brach nicht aus! Den ersten Jubel habe ich vernommen, als ein U-Boot unter einem Kapitänleutnant Prien in den Firth of Forth, Schottland, eindrang und zwei britische Kriegsschiffe mit dem Verlust von Tausenden von Menschenleben versenkte und die Besatzung des U-Bootes danach durch Berliner Straßen marschierte, um vom „Führer“ hoch dekoriert zu werden.  

Mir ist es bis heute ein Rätsel, wieso viele Deutsche nach dem Krieg erwarteten, dass die Medien und die Menschen in Frankreich und Großbritannien Deutschland und die Deutschen nicht weniger kritisch betrachteten. Bei älteren Jahrgängen vor allem in Kleinstädten und unter sogenannten „Wohlstandsbürgern“ vermeine ich heute noch die  Haltung zu verspüren, als ob das Ausland Deutschland Unrecht getan hätte.  

1936 bekam ich ein Schwesterchen. Mein Vater, als Salzufler Ratsherr seit 1930, er saß natürlich für die NSDAP im Rat der Stadt, bekam seinerzeit Kontakt mit der Direktorin des Salzufler „Lyceums“, später das Mädchengymnasium. Diese war eine glühende Bewunderin unseres „Führers“. Eine ältliche „Jungfrau“, unattraktiv dazu, verliebte sie sich in einen Schönling, wenn auch nur platonisch, denn dieser war verheiratet und hatte zwei Kinder. Er suchte und fand Zuflucht in ihrem Haus in der Walhallastraße in Schötmar. Er hatte im Ruhrgebiet wegen seiner exponierten Stellung in der SS, er war SS-Oberführer (Oberst), Probleme mit seinem damaligen Arbeitgeber bekommen, die ich aber nie ganz verstanden habe. Jedenfalls bahnte sich  eine Bekanntschaft an, die dazu führen sollte, dass die Oberstudiendirektorin „Tante Annemarie“, Patentante meiner Schwester werden sollte. Nach der Machtübernahme 1933 wurde dieser SS-Führer aufgrund seiner Beziehungen, angeblich war auch ein Mitglied des hessischen Herzoghauses hohes Mitglied der SS, Landeshauptmann von Hessen-Nassau mit Sitz und Wohnung im Ständehaus in Kassel. Als solcher unterstanden ihm u.a. die Heil- und Pflegeanstalten, von denen eine, Hadamar, schrecklichen Ruhm erlangen sollte. In dieser Anstalt begannen die furchtbaren Aktionen zur Tötung sogenannten „unwerten Lebens“, und zwar noch vor dem Krieg, 1938. Ich selbst habe in einem Vortrag eines Gauredners aus Münster im Saal des „Luisenhofs“, den wir anhören mussten, eine versteckte Werbung für die „Ausmerzung“ von unheilbaren Geistes- und anderen Kranken gehört. Der Redner verkleidete sein Argument mit dem Hinweis, dass die Schwestern und überhaupt alle Heilkräfte den Verwundteen fehlen würden, wenn sie nicht von der Pflege dieser Kranken   entbunden würden.  

1940 schienen die Schwierigkeiten meines Vaters mit den örtlichen (Kreis) Parteiinstanzen immer größer zu werden, sodass er sich um eine Stelle in Posen im jetzt neugeschaffenen „Warthegau“ bewarb. Und zwar konnte er dort zum Präsidenten der für die Provinz Posen-Westpreußen zuständigen Kammer der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer bestallt werden. Dieser Teil war früher urpreußisch gewesen, wobei man preußisch nicht mit urdeutsch gleichsetzen sollte, denn die Preußen waren ursprünglich ja Slaven. In der Zwischenkriegszeit nannte man ihn den „Korridor“, mit dem Polen eine Anbindung ans Meer erhielt. Danzig wurde dem Völkerbund unterstellt.  

Mein Vater siedelte alleine um, meine Mutter, meine Schwester und ich blieben in Bad Salzuflen. Aber jeden Sommer fuhren wir in den großen Ferien nach Posen, wo mein Vater das Haus des früheren polnischen Vize-Regierungspräsidenten bewohnte, der mit einem Köfferchen in das „Generalgouverment“ vertrieben wurde. Der Plan war, durch die Etablierung des „Warthegaus“ alle Elemente der früheren polnischen /slawischen Vergangenheit auszumerzen. In Posen hatte ich einige der schmerzlichsten Erlebnisse des letzten Krieges. Als Deutscher musste man irgendeine Abzeichen tragen, dass einen als Deutschen auswies, z.B. die „HJ“ Anstecknadel. Der Motorwagen der Straßenbahnen war allein so Ausgewiesenen vorbehalten, Polen durften nur auf dem Anhänger fahren. An den Litfasssäulen waren immer irgendwelchen Aufkleber zu sehen, in denen bekannt gemacht wurde, dass wieder so und so viel Polen zum Tode verurteilt wurden, z.T. wegen nichtiger Anlässe, z.B. Witze übern den „Führer“. Aus Bad Salzuflen befand sich aber auch ein älterer Schulkamerad in Posen in Garnison. Als Asthmakranker war er nur g.V.  garnisonsverwendungsfähig. Er wurde zu den Landesschützen eingezogen und seine Einheit bewachte Gleisanlagen und Bahnhöfe. Er besuchte uns häufig, da die beiden Väter auch in Bad Salzuflen befreundet gewesen waren. Trotz unseres Alterunterschiedes von 2-4 Jahren erzählte er mir mit der Zeit mehr und mehr Einzelheiten aus seiner Dienstzeit, vielleicht, um sich auch einmal aussprechen zu können.  

Er berichtete (1941 – 1943), dass nachts immer Züge mit Tausenden jüdischer Verschleppter in sogenannte KZ, er nannte Namen  wie Maidanek, Auschwitz, Treblinka, fahren würden. Er hätte gehört, dass die Juden dort umgebracht würden, auf welche Weise konnte er nicht sagen. Das Unsägliche haben wir dann erst nach dem Krieg gehört. Ich war derartig empört, dass ich sofort zu meinem Vater gelaufen bin. Ich sagte ihm nicht von welcher Quelle ich diese Informationen hatte, aber ich fragte ihn nach dem Wahrheitsgehalt.  

Er wurde sehr erbost, schalt mich einen Verräter, und behauptete, dass es sich um Erfindungen, von Deutschlands Feinden ausgedacht, handele. Kurz darauf sah ich jedoch selbst, wie SS-Verfügungstruppen, ich möchte sie nicht Soldaten nennen, auch wenn sie feldgraue Uniformen trugen, einige Hundert Leute mit einem Judenstern durch die Stadt trieben. Zufällig befanden wir uns auch zur Zeit des Warschauer Aufstandes in Posen, wo hinter der vorgehaltenen Hand die schrecklichsten Geschichten erzählt wurden.  

Zurück im Altreich nahm der Schulbetrieb seinen gewohnten Lauf und verlangte vor allem in Latein meine volle Aufmerksamkeit. Bad Salzuflen blieb auch vorläufig von dem 1942  mit aller Macht einsetzenden Bombenkrieg relativ unberührt. Jedoch ab Anfang 1943 nahm er derartig zu, die Bomberströme nach Berlin waren fast täglich und vor allem nächtlich zu hören, aber auch aus dem Ruhrgebiet kamen schlimme Nachrichten. Verwandte aus Dortmund suchten hier Schutz und im Frühsommer 1943 gab es Gerüchte, dass Oberschüler (Gymnasiasten) die fehlenden Flaksoldaten ersetzen sollten. Bereits einige Wochen darauf erfand man den beschönigenden Begriff „Luftwaffenhelfer“ und die Klassenkameraden der Jahrgänge 1926 und 1927 wurden eingezogen, in Rehme an der Weser eine leichte Flakbatterie zu bilden. Am 11. Januar 1944 folgten die vier verbliebenen tauglichen Angehörige des Jahrganges 1928.  

Dazu gehörte ich. Nach kurzer Ausbildung in Bielefeld - Brackwede kam ich zur 2. Batterie der leichten Flakabteilung 737 mit der Stationierung am Eisenbahnviadukt Bielefeld-Schildesche (Brake). Ich wurde Richtkanonier an einer 2 cm Flak 38 Vierling, eine vollautomatische Maschinenkanone, die pro Rohr unter günstigen Bedingungen bis zu 180 Schuss in der Minute feuern konnte, leider nur bis zu 2800 m hoch. Da jedoch die Bomberverbände ausschließlich darüber flogen, kamen wir nur gegen Tiefflieger zum Einsatz. Eine Ausbildung zum Richtkanonier (K1) erhielt ich auf dem Truppenübungsplatz Warstein.  

Im Herbst 1944 begannen auch die Angriffe auf Bielefeld (September), die am Totensonntag einen neuen Höhepunkt erreichen sollten. An diesem Tag wurde auch der Viadukt direkt angegriffen. Insgesamt über dreimal. Hierbei erlitt die Batterie derartig hohe Verluste an Menschen aber auch Kanonen, dass sie vollkommen neu aufgestellt werden musste. Zwei meiner eigenen Geschützmannschaft fielen. Ein Neuanfang mit gebrauchten Kanonen erfolgte auf dem Segelflugplatz Oerlinghausen. Dieser war gleichzeitig als Sprungbrett für die letzte deutsche Offensive im Westen gedacht, die sogenannte Ardennen- bzw. nach ihrem Planer „Rundstedt“- Offensive benannt.  

Als ich mit meinem Fahrrad von einem 48-Stunden-Urlaub zurückkommend in Schildesche die Batterie suchte, waren die Geschützstellungen leer und Anwohner, die aus den Trümmern herauskrochen, erzählten mir, dass die Batterie mit Pferdewagen nach Oerlinghausen gezogen sei. Ich übernachtete bei Verwandten in Vilsendorf und fuhr der Batterie am nächsten Morgen nach. In Oerlinghausen fielen mir als erstes Fallschirmjägersoldaten auf, sofort erkenntlich an Stahlhelmen ohne Rand, die  dort Häuserkampf probten. Sie sagen mir, wo sich die Batterie befand, nämlich auf dem alten Segelflugplatz eingegraben, die vier Züge um den Flugplatz verteilt.  

Wir hatten auch einen neuen Batteriechef, einen Leutnant aus Wien, der schon in Stalingrad verwundet war. Ich meldete mich bei ihm zurück und bekam bei dieser Gelegenheit den Auftrag erklärt, für die im Wald verborgenen Transportmaschinen vom Typ Ju52 den Flakschutz zu bilden. Die Fallschirmjäger waren irgendwo auf dem Truppenübungsplatz kaserniert. Wir hatten absolutes Schiessverbot, denn die Aktion sollte GEKADOS   - Geheime Kommando-Sache –  sein.  

Am 16. Dezember ging es dann los, es startete von Oerlinghausen aus eine Fallschirmjägereinheit unter Oberst von der Heydte, transportiert mit mehreren Starts durch ungefähr 30 – 36 Transportmaschinen, die je nur ca. 15 – max. 20 Soldaten mit voller Last tragen konnten. Diese flogen nach Südwest und setzten die Fallschirmjäger hinter den US-amerikanischen Linien in der Gegend von Bastogne ab. Gleichzeitig sollten Panzereinheiten die feindlichen Linien durchbrechen und die Fallschirmjäger entsetzen. Nach drei Tagen war der Vormarsch gestoppt. Einmal reichte der Sprit nicht mehr, der Nachschub kam nicht durch, schlechtes Wetter setzte ein und frische britische Truppen kamen den US-Amerikanern zur Hilfe.  

Das war das letzte Aufbäumen. Kurz darauf wurde ich bei einem Tieffliegerangriff auf den Flughafen am Bein verwundet, zwar nur leicht und auf dem Krankenrevier verbunden. Danach brauchte ich nur noch Dienst auf der Batteriebefehlsstelle tun. Schließlich wurde ich Mitte Januar 1945 von den Luftwaffenhelfern entlassen,. Schulunterricht hatten wir bereits seit September 1944 nicht mehr gehabt.  

Sofort darauf wurde ich jedoch zum Arbeitsdienst nach Everswinkel im Münsterland eingezogen. Wir trieben jedoch nur militärische Ausbildung, die ich bereits bei der Luftwaffe gehabt hatte. Nach sechs Wochen, ca. Mitte März, kam ich als Offiziersbewerber zu einer Luftwaffenfelddivision, denn fliegendes Personal gab es ja kaum noch, welche die Aufgabe hatte, die Rheinübergänge bei Wesel zu verteidigen, über die die B.A.O.R (Britisch Army of the Rhine) vorzurücken versuchte, während die Amerikaner über die Brücke von Remagen vorrückten. Beide sollten den sogenannten Ruhrkessel bilden.  

Die Luftüberlegenheit der Alliierten ließ keine Chance für einen effektiven Widerstand und so entschied sich unser Kommandeur, die Weserübergänge bei Rinteln als nächste Linie zu verteidigen. Die erwähnte Luftüberlegenheit führte dazu, dass wir keine Bewegungen tagsüber durchführen konnten, sondern gezwungen waren, nur nachts zu marschieren. Tiefflieger schossen auf jede Maus. So gelangten wir auf Nachtmärschen von ca. 30km über Gahlen/Münster, Rietberg an den Teutoburger Wald, dem wir uns auf dem Rückzug am Gründonnerstag 1945 näherten. Ich bildete mit zwei Kameraden aus B.S. eine MG-Besatzung, das wir abwechselnd tragen mussten, die beiden anderen jeweils die Munitionsbehälter, ich war der eigentliche Schütze aufgrund meine K1 Erfahrung bei der Flak. Wir hatten beschlossen, irgendwann einfach nach Hause zu gehen. Das war natürlich sehr gefährlich, dann auf Fahnenflucht stand die sofortige Todesstrafe. Aber der Marsch durch die Dörenschlucht war einfach zu verlockend.  

Wiederholt waren wir von vorrückenden feindlichen Verbänden eingekesselt worden, konnten aber wieder frei kommen, ständig hatten wir das Rasseln von Panzerketten im Ohr, das waren aber kein eigenen! Wir hatten ungefähr den Scheitelpunkt der Straße durch die Dörenschlucht erreicht, als sich der Mond hinter einer Wolke kurzfristig verkroch. Die Kolonne war weit auseinandergezogen, denn durch das schlechte Schuhwerk und die nächtelangen Märsche war die Disziplin doch ziemlich abgesunken. Ein Blick nach hinten, einen Blick nach vorn, und schon landete das MG samt Munitionskästen im Straßengraben. Wir selbst hinterher und ließen uns hinter einige Krüppelbäume rollen. Niemand schien uns bemerkt zu haben und so warteten wir ungefähr eine halbe Stunde und verhielten uns mucksmäuschenstill. Wir schlichen nach bester „Old Shatterhand“ Art bis zum nördlichen Rand der Schlucht, wo wir dann bald an die ersten Gärten kamen. Nun ging es Querbeet an den Rethlager Mühlenteichen, dann an Lage vorbei, sodass wir ungefähr in Waddenhausen herauskamen, heute befindet sich dort ein Lokal im Rotlichtmilieu. Damit hatten wir auch schnell die B239 erreicht, hier wurde es gefährlich, denn auf dieser Strasse fuhren ständig die Streifen der Feldgendarmerie, Kettenhunde genannt. Mehrfach mussten wir den Straßengraben aufsuchen oder noch weiter abtauchen, jedenfalls erreichten wir gegen Morgen des Karfreitags B.S. Als erster schied Achim aus, dessen Vater in Schötmar praktischer Arzt war, jetzt aber Oberstabsarzt bei der Wehrmacht, der zwar eine elegante Uniform trug, aber nie die Front gesehen oder einen einzigen Schuss gehört hatte. Er war lediglich in einem Lazarett in B.S. beschäftigt, dafür aber umso aufgeblasener.  

Ich erreichte unser Haus an der Rudolf Brandes Allee gegen 6:00 früh, während Karl noch bis zum Obernberg zu gehen hatte. Meine Eltern waren natürlich bass erstaunt, freudig zwar aber auch ängstlich. Ich zog sofort Zivil an, aber leider taten uns die Amerikaner nicht den Gefallen, sofort nachzustoßen, sondern sie beschäftigten sich zunächst mit dem Ruhrkessel und den darin eingeschlossenen Truppen. Sie kamen erst am folgenden Mittwoch. Am nächsten Morgen rief mich der Vater von Achim an, das Telefon funktionierte noch, er werde seinen Sohn sofort der Truppe an die Weserübergänge per Fahrrad nachschicken, Karl und ich sollten das Gleiche tun, denn sonst würde er uns bei der SS als Deserteure anzeigen. Was das bedeutete war jedem klar. Standgericht mit sofortiger Vollstreckung, ich hatte bereits einige Opfer deutscher Kriegsgerichte auf dem Rückzug gesehen.  

So meldete ich mich wieder in Uniform am Dienstag nach Ostern bei dem Lazarett bei uns um die Ecke, heute Schützenstraße, vorher war das Gebäude die Berufsschule gewesen. Mein Freund und Klassenkamerad Karl ebenso. Ich konnte GsD meine alte Verwundung wieder aufleben lassen, denn die Wunde hatte sich durch schlecht sitzende Stiefel wieder entzündet und ich hatte eine regelrechte Blutvergiftung mit roten Streifen etc. So kam ich gleich ins Bett und bekam Sulfonamide zum Einnehmen. Am nächsten Tag erschienen dann die Amerikaner im Lazarett und wir wurden dadurch offiziell PoW -Kriegsgefangene- und unterstanden damit automatisch den Genfer Konventionen. Jeden Tag wurden wir von Militärärzten der Amerikaner untersucht und wer von ihnen „gesundgeschrieben“ wurde, konnte damit rechnen, dass er spätestens am nächsten Tag zur Abholung in ein Kriegsgefangenenlager anstand. Vorher wurde ich aber noch 17 Jahre (am 29. April). Am 3. Mai war der Termin nicht mehr zu verzögern. Bis dahin erhielten wir erstklassige Rationen, Nescafe, Zigaretten (Camel & Chesterfield), und alle möglichen Leckereien, die wir seit Jahren nicht mehr gesehen, geschweige denn geschmeckt hatten.  

Am Nachmittag des 3. wurden Karl und ich aufgerufen, wir hatten noch eine kleine Hoffnung, dass wir entlassen würden. Draußen auf der Strasse stand ein großer Militär-LKW, auf dem sich schon einige Kriegsgefangene befanden. Wir waren aus diesem Lazarett die einzigen und so klapperten wir nach und nach die etwa 6 – 7 anderen Salzufler Lazarette ab, bis der LKW randvoll war. Er brachte uns dann zur Kiewiese nach Herford, um die ein paar Tausend Gefangenen zu verstärken, die dort lagerten. Weshalb wir dann noch am gleichen Nachmittag zum Güterbahnhof marschieren mussten, um noch am Abend auf offenen Bahnwaggon verladen zu werden, ist mir unklar. Auf meinem Waggon befanden sich ca. 66POW, die von den amerikanischen Wachtposten aufgefordert wurden, ihre Wertsachen einschl. Uhren abzugeben. Jahrzehntelang hatte eine antirussische Propaganda immer den Sowjets unterstellt,  nur sie hätten „uri, uri“ geschrieen. Das passte ca. 30 Jahre lang im kalten Krieg. Wir sollten bald feststellen, dass sich der einzelne russische Soldat und Offizier häufig menschlicher zeigte , als die US-Amerikaner, die im Gegensatz zu den östlichen Nachbarn nie eine deutsche Granate oder Bombe auf ihr Land fallen sahen, weder im ersten noch im zweiten Weltkrieg. Die Grausamkeit dieser Leute sollten wir nur zu bald erleben. Der Transport ging zunächst zum Kgf-Lager Büderich, heute ein Stadtteil von Wesel am Niederrhein. Mehrfach versuchte die Bevölkerung auf dem Wege dorthin, und auch in den beiden Lagern, die ich kennen lernen sollte, uns Lebensmittel zuzuwerfen. Gewehrsalven vor die Füße der Hilfsbereiten, vertrieben diese schnell.  

Nach mehr  als zwei Wochen Aufenthalt im Lager Büderich, das eigentlich unr aus Stacheldrahtverhauen bestand, und in dem wir kaum etwas zu essen bekamen, z.B. 8 Brote für 1000 Mann, plus täglich je ein Teelöffel Milch- und Eipulver plus etwas Trockengemüse. Eine Möglichkeit zum Kochen dieser wenigen Zutaten bestand nicht. Es folgte dann der Todesmarsch der völlig Entkräfteten nach Rheinberg, ca. 12 – 14 km entfernt. Dort verbesserte sich die Situation nur unwesentlich, die Portionen wurden etwas größer, es gab gelegentlich etwas warme Milchsuppe mit ein paar Trockenpflaumen. Da wir meistens unter der Unsauberkeit und des unreinen Wassers litten, brach bald Ruhr (Dysenterie) aus, da war die Ernährung genau falsch. Eine Unterbringung gab es auch  nicht. Wir kampierten wochenlang auf den Feldern, daher wurde auch der Begriff „Rheinwiesenlager“ geprägt. Ich bin heute überzeugt,  dass ohne den Kommandeur einer britischen Flakbatterie, die die Bewachung nach der Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen von den Amerikanern übernahm, und des folgenden 43 Disbandment Units, R.A, und der sehr menschlichen Soldaten, darunter viele Schotten, ich nicht in der Lage sein würde, diesen Bericht zu schreiben. Den Angehörigen dieser Einheiten gilt mein Dank! Ende Juli wurden die Jugendlichen bevorzugt entlassen, in dem sie der Kommandeur kurzerhand als Land-, Transport- oder Bergarbeiter einstufte. Ich ernannte mich selbst zum „farmworker“ beim Bauern Sprick in Ahmsen. Die zwei britischen Bewacher fuhren mich mit ihrem LKW bis vor die Haustür in Bad Salzuflen, Rud. Brandes Allee 11, die meisten anderen jedoch bis zum Landratsamt in Brake/Lemgo.  

Etwa zwei Wochen später wurde mein Vater von dem britischen Field Security Service verhaftet, der in Schötmar im Kolibri-Werk seine Dienststelle hatte. Er war natürlich rechtzeitig aus Posen geflohen. In den wenigen Augenblicken, die wir für Aussprachen benutzten, bleib er bei seinem Standpunkt, dass die Alliierten, angetrieben vom internationalen Judentum, an allem Schuld seien. Die Patentante meiner Schwester, die Oberstudiendirektorin des Lyzeums, war bei uns einquartiert, da sie ihr Haus Besatzungsbehörden zur Verfügung stellen musste. Als ich eines Mittags meine Meinung über die Kriegsereignisse äußerte, stand sie auf, begann zu weinen und ging hinaus. Sie war verzweifelt über den „Vaterlandsverräter“, der ich ihrer Meinung nach geworden war.  

Die Polen hatten die Auslieferung meines Vaters verlangt, weil er sich an den Konfiskationsmaßnahmen beteiligt hätte, wo polnische Staatsangehörige ihren Besitz an baltendeutsche Grundbesitzer verloren. Man wollte den Warthegau „slawenfrei“ machen und dafür deutsche Siedler aus dem Baltikum für ihren dort verlorenen Besitz entschädigen. Mein Vater hatte lediglich diese Transaktionen steuerlich begleitet, denn bei den größten Unmenschlichkeiten muss doch alles seine “Richtigkeit“ haben. Er kam 1948 als gebrochener Mann zurück und verstarb etwa ein Jahr später. Um meine Mutter und meine Schwester (8 Jahre jünger als ich) zu unterstützen, ging ich nicht zur Schule zurück, sondern begann als Angestellter bei einer Dienststelle der Besatzungsbehörden bis Frühjahr 1947. Dort gelang es mir durch Schwarzhandel und windige Tauschgeschäfte die Familie soweit über Wasser zu halten, dass ich anschließend in Herford die Höhere Handelsschule besuchen konnte.  

Im Juni 1948 gab es die Ablösung der wertlosen Reichsmark (Maßstab 1 Zigarette bis zu 5 RM) und bald darauf der Aufbau der deutschen Institutionen ab „Land“. Die Kommunen und Kreise waren bald nach Kriegsende schon wieder funktionstüchtig. Jeder Kreis bekam einen sogenannten „ Kreis Resident Officer“ und man möchte manchmal wünschen, sie gäbe es heute noch, denn sie waren nicht korrumpierbar, ich habe jedenfalls von keinen Offizier oder anderen Angehörigen der „CCG“ - Control Commission for Germany - gehört, dass er in irgendeine Korruptionsaffäre verwickelt war. Das haben noch nicht einmal die Ewiggestrigen behauptet.  

Aus der preußischen Rheinprovinz und der Provinz Westfalen entstand dann 1947 das Land Nordrhein-Westfalen, das um das schöne Ländchen Lippe (bis dahin Freistaat) angereichert wurde. 1948 – 1949 erfolgte dann der Wiederaufbau zur Bundesrepublik Deutschland.