Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

Josef

 

KRIEGSVERSEHRTE

Seit Mutters Tod nutze ich jede Gelegenheit, über den Friedhof zu gehen, auf dem sie begraben liegt. Ich kenne das verzweigte Wegenetz wie einen Stadtplan, statt an Straßennamen orientiere ich mich an Grabsteinen, auf denen ich die Namen von Bekannten, Verwandten und früheren Nachbarn finde. Und mit jedem Namen, der sich mir einprägt, verbindet sich eine Geschichte. Noch nach Kriegsende haben wir Kinder auf diesem Platz gespielt, er war nur wenig bewachsen mit niedrigem Kiefergehölz zwischen trockenen Sandgruben, er stellte kein lohnendes Objekt für die Bauern dar, weil der Boden zu karg war. So entschloss sich die Gemeinde Spexard, nachdem in ihr eine Kirche aus einer Militärbaracke erbaut war, hier einen Friedhof einzurichten. Ich kann mich noch gut erinnern an die erste Beerdigung auf diesem Platz.

Es kann  passieren bei meinen Erinnerungsgängen, dass ein Name auf einem Grabstein mich Stunden oder sogar Tage gefangen nimmt, um ihn rankt sich ein Kranz von Erlebnissen, an die ich mich wieder erinnere, die mir wieder lebendig und handgreiflich vor Augen treten. Ich merke z. B., dass ich vor einem Grabstein stehen geblieben bin, der eingemeißelte Name ist Vehikel. Ich sehe mich mit dem Fahrrad meines Vaters zur Mühle fahren. Den großen Sattel habe ich abgeschraubt, weil er mir im Wege ist, ich komme mit meinen kurzen Beinen gerade über die Stange des 28“-Herrenrades. Das kleine flache Sättelchen, auf dem ich saß, wenn mein Vater mich mitnahm, habe ich soweit wie möglich auf der Querstange nach hinten geschoben. So kann ich sitzend gerade ans Pedal des Rades kommen. Auf dem Gepäckträger habe ich einen Sack mit vielleicht 20 kg  „heilen“ Roggen, den meine Mutter sich bei ihren früheren Nachbarn mit mittelgroßen Bauernhöfen erbettelt hat. Ich soll diesen Sack Roggen zum Müller bringen, zu dem, vor dessen Grab ich stehe. Der soll diesen Roggen mahlen. Ich werde das Roggenmehl nach ein paar Tagen abholen und zum Bäcker bringen (einem Vetter meines Vaters, eine neue Geschichte), der den Mehlsack mit unserem Namen versieht und für uns für ein paar Groschen von diesem Mehl Brot backt, das ich zweimal in der Woche wieder mit dem Fahrrad abhole, bis er oder seine Frau mir sagen muss, dass das Mehl aufgebraucht ist, d. h. wenn meine Mutter nicht neues Korn „organisiert“, müssen wir das klebrig-süßliche Maisbrot essen oder uns mit Kartoffelpuffer begnügen.

Die Erwachsenen sagen, der Müller hat einen Arm im Krieg verloren. Wenn ich auch erst sieben Jahre alt bin, so weiß ich doch, dass man einen Arm nicht so verlieren kann wie ich manchmal die Einkaufstasche vom Gepäckträger. Wenn ich den einen Ärmel des Müllerkittels leer herunterhängen sehe, das untere Ende in die Seitentasche gesteckt, dann muss ich an zerschossene Knochen und Hautfetzen denken, an Schreien vor Schmerzen, an Verbandsplätze mit Operationstischen, an Messer und Sägen (ich habe einmal mit meiner Mutter meinen verwundeten Vater im Lazarett in Hameln besucht, er hatte einen Oberschenkeldurchschuss. Er hat auf Drängen meiner Mutter sein zerschossenes Bein aufgedeckt und mit wenigen Worten das Geschehen beschrieben, ich habe davon nur einen Bruchteil gehört oder verstanden.) Ich sehe mich, wie ich befangen vor Mitgefühl ihm nicht zuviel Arbeit mit meinem Korn aufhalsen will, ich will es selber in die Mühle tragen und wenn ich weiß, wohin, auch selber ausschütten, um ihm sicher schmerzhafte Anstrengung zu ersparen. Und dann sehe ich, wie er leichtfertig den Sack nimmt, ihn auf eine Sackkarre wirft und mit ihr durch die schmalen Gänge fährt – mit einem Arm, obwohl doch die Karre mit zwei Griffen auch für zwei Hände gebaut ist.

Mein Mitgefühl rückt in dem Maße in den Hintergrund, in dem meine Bewunderung  für seine ungeheure Kraft und seine Geschicklichkeit wächst. Ich verliere meine Befangenheit ihm gegenüber. Meine Aufenthalte in der Mühle werden immer länger, es gibt unendlich viel Interessantes zu beobachten, das Mahlwerk wird vom Wasser des Ölbachs getrieben, ich darf überall nachschauen und nachfragen, er erklärt mir die Zusammenhänge, so dass ich sie verstehen kann. Eine Bitte hat er mir nicht erfüllt: Ich muss immer wieder bewundern, wie er mit nur einer Hand einen Sack zubinden kann. Er macht das so schnell, dass ich den Vorgang nicht nachvollziehen kann. Er soll das mir zuliebe einmal ganz langsam machen, aber das will oder kann er nicht.

Ich hänge mit meinen Gedanken am Wort „kriegsversehrt“ fest, und schon fällt mir Clemens ein, Clemens Kötter. Ich gehe zu seinem Grab, das einige Wege entfernt liegt. Clemens ist unser Nachbar, 1912 geboren, lese ich auf seinem Grabstein, er ist Kriegsteilnehmer von Anfang an. Er wohnt jetzt wieder mit seiner Mutter und den Geschwistern in einem Nachbarhaus. Ich kenne ihn als „Krüppel“,  ihm sind in Russland beide Beine abgefroren, ein Bein ist über dem Knie, eins direkt unter dem Knie amputiert. Wir beobachten, wie seine Mutter, eine scheue Frau, ihn im Bollerwagen zum Arzt zieht, fünf Kilometer ein Weg. Sie tut das frühmorgens, wenn möglichst wenig Leute es sehen, sie schämt sich, dass sie einen Krüppel zum Sohn hat. Aber Clemens ist nicht scheu. Er lässt sich nicht hängen. Ein bekannter Tischler hat ihm Krücken gebaut. Je zwei stabile Holzlatten hat er am unteren Ende verschraubt, die oberen Enden hat er gespreizt, damit kurze Querleisten waagerecht eingefügt und befestigt werden können, auf sie kann er sich mit den Achseln hängen. Etwa auf halber Länge sind noch mal kurze Querleisten verschraubt für das Aufstützen der Handballen. Sie kann er auch mit seinen Fingern umfassen und so die Krücken bewegen. Sie sind passend zu seiner früheren Körpergröße auf Länge geschnitten. Ich sehe ihn auf den Krücken hängen, an eine Wand gelehnt,  aber er kann sie nicht vorwärts bewegen, weil kein Fuß vorhanden ist, auf den er sein Körpergewicht während es Verstellens der Krücke verlagern kann. Mühsam versucht er seinen Körper an die Wand zu lehnen, wenn er eine Krücke verstellt. So ist eine Fortbewegung nur meterweise möglich.

Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit vergangen ist von seinem ersten Üben mit den Krücken bis zu dem Vormittag, an dem er schweißüberströmt auf unserem Hof stand. Wohlgemerkt: Er stand und war offensichtlich nur mit eigenen Kräften zu uns gegangen, einen Weg von immerhin dreihundert Metern. Wir mussten ihm helfen bei seinem Bemühen, sich auf unsere Gartenbank zu setzen. Er hatte nicht nur auf seinen Krücken gehangen, er hatte sich auch auf Beinen und Füßen aus Eisen abstützen können mit diesem Ergebnis, auf das er ganz offensichtlich trotz seiner Erschöpfung stolz war. Ich sehe ihn eine Tasse „Muckefuck“ trinken, die meine Mutter ihm gebracht hat. Er hat überhaupt keine Hemmungen, uns seine neue Errungenschaft vorzuführen.

Der Sohn eines weiteren Nachbarn ist bei einem Schmied in der Lehre. Er hat ihm dieses Meisterwerk von Beinen und Füßen aus Flach- und Rundeisen zusammengeschweißt. Er zeigt uns die eisernen Rundungen, in die genau seine Beinstümpfe passen, berücksichtigt wurde die Polsterung, damit nichts scheuert. Seine Mutter hat sie aus Stoffresten gemacht. An diese Rundungen sind Rundeisen geschweißt, an sie wieder Eisenplatten, die die Füße ersetzen sollen, sie sind im vorderen Drittel  leicht gebogen, damit der „Fuß“ beim Gehen besser abrollen kann. Die Länge der Eisenbeine und –füße ist genau der Amputationshöhe angepasst, also unterschiedlich, so dass der „Krüppel“ wieder wie ein normal großer, gerade gewachsener Mensch auftreten kann. Rollladengurte von unterschiedlicher Länge sind so an den eisernen Rundungen befestigt, dass sie über Schultern und am Hosengurt getragen werden können. Sie halten den Bein- und Fußersatz auf den Stümpfen fest und ermöglichen so erst eine Vorwärtsbewegung.

Wenn ich mir die Situation jetzt vergegenwärtige, fällt mir auf, dass die Freude über eine Bewegungsmöglichkeit ohne jede fremde Hilfe Gedanken an Ursachen und Gründe für dieses ganz und gar unmenschliche Geschehen verdrängte und in Vergessenheit geraten ließ.  Ich habe nie gefragt, wo genau und unter welchen Umständen denn dieses Erfrieren stattgefunden hat. Ich war stattdessen versessen darauf zu beobachten, wie Clemens es mit ungeheurer Energie und Ausdauer schaffte, sich - zumindest äußerlich - vom hilflosen Krüppel zum unauffälligen, normalen Menschen zurückzuentwickeln.

Clemens kam in der Folgezeit oft zu uns. Er saß immer draußen auf der Bank, Stufen und Treppen machten ihm wohl noch große Schwierigkeiten. Er erzählte viel – aber nie vom Krieg und den Folgen für ihn. Dann passierte etwas, was ich damals überhaupt nicht verstehen konnte. Eine unbedachte oder aber bösartig – hinterhältige Bemerkung einer Bekannten meiner Mutter gegenüber störte das unbefangene Vertrauensverhältnis: Jetzt hast du ja einen neuen Verehrer!  Selten habe ich meine Mutter so verletzt und wütend gesehen wie nach dieser kurzen Bemerkung, und ich stand nur dumm und hilflos dabei. Ich weiß auch heute noch nicht, was neben seinem offensichtlichen Stolz  über seine zurückgewonnene Selbstständigkeit in Clemens vorgegangen ist, was meine Mutter so fassungslos gemacht hat. Wir haben nie darüber geredet. Meine Mutter war 37 Jahre alt, als ihr Mann starb. Warum hat sie nicht wieder geheiratet? Sie hat es mir nie gesagt, und ich habe sie nie gefragt. Vielleicht hatte ich Angst vor der vermuteten Antwort: Ich wollte ganz für euch Kinder da sein! Wer denkt schon gern, dass er dem möglichen Glück eines lieben Menschen im Wege gestanden hat? (wieder eine neue Geschichte)

Clemens kam weiterhin, aber seltener, meine Mutter blieb im Haus, wenn er auf der Gartenbank saß. Er hatte auch weniger Zeit, denn es gab neue Errungenschaften: Er bekam einen Stuhl auf Rollen. Seitlich vom Stuhl waren Hebel, die mit den Armen hin und her bewegt werden konnten, die Kraft übertrug sich auf ein Getriebe, das die hinteren Räder des Stuhls antrieb. Er konnte also allein kilometerweit fahren und er fuhr schnell und übermütig, er konnte fast mithalten, wenn wir ihn mit dem Fahrrad begleiteten. Und es gab wieder neue Überraschungen: Er kam stolz mit seinem Rollstuhl auf unseren Hof gefahren, stand auf, und wir sahen sofort, dass die Eisenplatten verschwunden waren und richtige Schuhe – blankgeputzt – zum Vorschein kamen. Er trug Prothesen, mit denen er bald – nur auf einen Stock gestützt – losmarschieren konnte. Bevor wir in einen anderen Ortsteil von  Spexard zogen, bekamen wir noch mit, dass er mit anderen aus der Gegend auf einem normalen Fahrrad zur Arbeit fuhr.

Dann hörten wir, dass er geheiratet hätte und in die obere Wohnung des Hauses einer uns bekannten Familie gezogen sei. Hier traf ich ihn noch ein paar Mal, einmal kletterte er gerade auf Händen und Beinstümpfen die Treppe herauf. Er hatte Feierabend und war zu Hause, also hatte er seine Prothesen „ausgezogen“ wie wir unsere Schuhe. Dann haben wir uns aus den Augen verloren. Er ist – wie meine Mutter – 1997 gestorben, wie der Grabstein ausweist.

Ich stehe an einem anderen Grab, es liegt in unmittelbarer Nähe zum Grab meiner Mutter, ganz am Rande des Friedhofs. Auf ihm steht ein kleiner, unauffällig dunkler Stein, und ich denke, er passt zu ihm, zu Anton Brummel, einem Vetter meines Vaters. Obwohl er auf den ersten Blick körperlich heil, wenn auch erst 1947, aus russischer Kriegsgefangenschaft heim kehrte, sagen die Erwachsenen von ihm, er habe einen „Knax“ bekommen. Wir haben etwa vier Jahre mit ihm, seiner Frau und deren Adoptivsohn in einem Haus gewohnt, er ist so zurückgezogen und in sich gekehrt, dass ich nur ganz selten mit ihm ins Gespräch komme. Und wenn es dann mal geschieht, dann habe ich das Gefühl, er verschweigt, was er wirklich denkt und fühlt. Er hat ein körperliches Handicap, das man so schnell nicht wahrnehmen kann, von dem ich weiß und auf das ich schauen muss, wenn ich ihn sehe. Es scheint mir der Schlüssel zu seiner eigentlichen Krankheit zu sein, so dass ich ihn instinktiv zu den Kriegsversehrten zähle, die ich kenne. Seine linke Hand ist geschlossen, er kann sie nicht öffnen. Neugierig frage ich ihn immer wieder nach der Ursache dieser Eigentümlichkeit, die ihm im Alltag sehr hinderlich ist, weil er alle Arbeiten einhändig verrichten muss. Ich will nicht sein Unbehagen sehen, das meine Quengelei in ihm auslöst. Dann erzählt er doch – unerwartet - von seiner Not in Stalingrad, wie er vor der Entscheidung steht: entweder er wird in den Kessel eingeschlossen oder er muss bei eisiger Kälte einen Fluss durchwaten. Er riskiert den Ausbruch, bereitet sich sorgfältig vor, zieht Schuhe und Strümpfe aus, krempelt die Hosenbeine auf, damit sie möglichst nicht nass werden. Im Fluss merkt er, dass das Wasser seine aufgekrempelten Hosenbeine erreicht. Er hält sein Gepäck nur auf dem rechten Arm, mit der linken Hand versucht er die Hosenbeine hochzuziehen. So verbleibt diese Hand  ohne Bewegung für längere Zeit im eiskalten Wasser. Er überwindet zwar dieses Hindernis, kann aber seine linke Hand nicht mehr bewegen, sie ist erfroren.

So wie seine Hand ist er innerlich erfroren, so wie er seine Hand nicht mehr öffnen kann, ist es ihm nicht mehr möglich, sich seinen Mitmenschen gegenüber zu öffnen. Er ist krank in sich verschlossen, bleibt in seinem Leben behindert und stirbt – viel zu früh – 1963 zu einer Zeit, in der wir, die Allgemeinheit, über unseren Wohlstand die Folgen des Krieges längst vergessen oder verdrängt haben. Von seinen 49 Lebensjahren hat er acht Jahre im Krieg und in Gefangenschaft verbracht. Für wen eigentlich?

Später in der Schule habe ich eine Reihe von kriegsversehrten Lehrern erlebt. Wenn ich mich zu erinnern versuche, fallen mir als erste die ein, die wie unser Müller oder Clemens mit ihrer Behinderung „normal“ zu leben versuchten. August K. war unser Turnlehrer, beinamputiert und Protheseträger spornte er uns zu sportlichen Leistungen an. Wenn wir nicht alles gaben, was wir „drin hatten“ oder wenn wir uns zu dumm anstellten, machte er uns den Aufschwung am Reck vor mit der Bemerkung: Das kann sogar ich noch! Sein Hosenbein rutschte bei seiner Übung hoch und gab den Blick auf die Mechanik seiner Prothese frei. Er war in unseren Augen ein guter Lehrer. Ich kann mich an Lehrer erinnern, die ihre Behinderung zu verstecken suchten, die vor uns Schülern nicht zugeben konnten, dass sei behindert sind. Wie offen und ehrlich sie sich selbst gegenüber waren, blieb uns verborgen. Ungern erinnere ich mich an Lehrer, die mit der Welt und ihrer Umgebung haderten, weil sie das Unglück einer bleibenden Verletzung getroffen hatte. Für sie waren wir oft die „Unterbelichteten“,  für die Mühe und Geduld aufzuwenden verlorene Liebesmüh´ bedeutete. Sie wurden nicht fertig mit ihrem schweren Los. Statt diese verständliche Unfähigkeit in sich zu vergraben – wie Anton Brummel es versuchte – äußerte sie sich in verletzendem Zynismus. Sich als Schüler zu wehren, war gefährlich, weil damit der Prozess verstärkt und beschleunigt wurde. Eine Kommunikation wurde so unmöglich. 

Wir Kinder erlebten so die Folgen des Krieges mit auch insofern, als wir Schicksale von uns nahe stehenden Menschen und ihre Bewältigung beobachteten. Je näher uns Menschen kamen, die offensichtlich oder erst bei näherem Hinsehen erkennbar an Folgen des Krieges litten, um so schmerzlicher war es für uns, die für viele vergeblichen Versuche ihrer Bewältigung zu beobachten, um so erfreuter und mit Spannung  registrierten wir das erfolgreiche Bemühen vieler Kriegsversehrter, mehr oder weniger normal mit den Folgen zu leben.