Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -

 

  Evelyn

 

Kindheit unter Soldaten - Uniformen kommen und gehen -

 

Es war Ende März 1945, ich war gerade 9 Jahre alt geworden, als es hieß :

Frauen und Kinder müssen den Fliegerhorst Goslar verlassen. Er müsste entweder verteidigt oder gesprengt werden. Überall lag Munition umher, im Luftschutzkeller waren Leichensärge bereitgestellt. Meine Mutter war völlig verzweifelt, hatte sie doch kurz vorher die Vermisstenmeldung meines Vaters bekommen – er war Offizier bei der Luftwaffe und kam verwundet bei Königsberg in russische Kriegsgefangenschaft. Und nun sollten wir unser Zuhause , den Fliegerhorst verlassen? Ich lebte seit meinem 1.Lebensjahr hier, kannte nur Kasernen , Soldaten, die exerzierten und marschierten, die mir früher das Fahrradfahren beibrachten und Märchen vorlasen.Im Winter zogen sie mich auf dem Schlitten von einer Kaserne zur anderen. Es gab kaum Kinder zum Spielen. Ich kannte keine Kinderlieder, aber alle Soldatenlieder.

Meinen Vater kannte ich nur in Uniform, zunächst als Unteroffizier – später wurde er immer wieder befördert. Als er an die Front kam, wartete ich mit meiner Mutter auf Feldpostbriefe. – Aus dieser Zeit sind mir manche Namen wie Warschau, Smolensk, Kiew und Paris in Erinnerung. Auf Sizilien hatte er ein italienisches Bataillon zu befehligen und meckerte, dass die Italiener so nachlässig waren. Wenn mein Vater Urlaub hatte, war das für mich besonders aufregend : Anfangs kam er mit der YU-52. Ich kannte schon das Motorengeräusch und wenn die Maschine mit dem Flügel über unserem Haus wackelte, wusste ich: er ist es und lief flink zum Rollfeld. Dort kam er mir dann schon entgegen. Manchmal durfte ich mit ihm auch andere Maschinen besichtigen und einsteigen – leider nie mitfliegen. Einmal kam mein Vater nicht in gewohntem Fliegergrau, sondern er hatte eine hellbeigefarbige Uniform mit kurzen Hosen an – ich weiß noch, dass ich das sehr komisch fand. Irgendwie hörte ich auch den Namen „ Rommel." Erst sehr viel später erfuhr ich , was der zu bedeuten hatte.

Das letzte Mal, als mein Vater Urlaub hatte, kam er aus Russland. Er hatte einen dicken mit Pelz gefütterten Ledermantel an und ich erinnere mich, dass er sehr niedergeschlagen und sehr ernst war, aber er beteuerte „ ich komme immer wieder".

Es gab nur wenige Kinder auf dem Fliegerhorst, wir waren 5 Mädchen, die zusammen eingeschult wurden und mit der Kutsche zur Schule in die Stadt gebracht und wieder abgeholt wurden. Die verwundeten Pferde von der Front wurden auf dem Fliegerhorst wieder geheilt und so standen sie zur Verfügung. Ich wuchs also sehr beschützt auf bis später die Luftangriffe begannen. Einmal wurden etliche Flugzeughallen und umliegende Gebäude getroffen. Ich sah bei hellem Sonnenschein vom Rammelsberg aus (wir wurden von der Schule aus in den Stollen dort bei Fliegeralarm gebracht) die Geschwader anfliegen und konnte die Piloten in den Kanzeln erkennen. Plötzlich war alles in Rauch gehüllt, es krachte fürchterlich und ich hatte schreckliche Angst, dass meine Mutter und meine vier Jahre jüngere Schwester nicht rechtzeitig den Fliegerhorst verlassen konnten. Als ich heimgebracht wurde, sah ich, dass unser Haus heil geblieben war. Lange musste ich auf meine Mutter warten – sie war mit anderen Familien mit Militärfahrzeugen in einen Stollen außerhalb des Fliegerhorstes in Sicherheit gebracht worden..

Einmal wurden eine Schulkameradin und ich von Tieffliegern nahe am Rollfeld beschossen. Wir waren trotz Fliegeralarm zu Fuß von der Schule abgehauen und nicht ,wie angeordnet, in den nächsten Luftschutzkeller gegangen. Als wir an der Wache vom Fliegerhorst ankamen, wurden wir zunächst von den Wachhabenden tüchtig ausgeschimpft und danach von unseren herbei gerufenen Müttern verhauen. Meine Mutter war sehr streng – aber ich glaube, dass sie nur immer schreckliche Angst hatte. Jede Nacht stiegen unsere Aufklärungsmaschinen auf und Abwehrartillerie ballerte. Zum Schluß hatten wir keine Nacht mehr Ruhe.

Die Bombenangriffe kamen immer näher. So war es auch ganz verständlich, dass meine Mutter die Räumung des Fliegerhorstes erleichtert empfunden hat und nur weg wollte mit meiner kleinen Schwester und mir , dazu einer Flüchtlingsfrau aus Danzig mit ihrem kleinem Jungen, die bei uns noch zuletzt einquartiert wurden. Meine Mutter wollte mit uns zu ihrem Vater nach Rübeland, einem kleinen Ort im Harz, von hohen Felsen umgeben, ein kleiner Fluß, eine Eisenbahn, eine Straße, eine Häuserzeile und 2 Tropfsteinhöhlen. Hier, meinte sie, seien wir sicher. Ich kannte meinen Großvater von vielen Besuchen, leider war meine Großmutter schon einige Jahre tot.

Aber wir brauchten ein Fahrzeug und so gingen meine Mutter und ich abends im Dunkeln zur Kommandantur .Der Himmel leuchtete hinter den Bäumen rot und meine Mutter sagte: „Das sind Luftangriffe auf Hildesheim und Halberstadt". In der Kommandantur hingen einige Offiziere herum und nahmen uns kaum zur Kenntnis. „Die sind ja betrunken – was ist nur aus unserer Wehrmacht geworden!" Ich war furchtbar erschrocken und maßlos enttäuscht. Etwas später hat meine Mutter es doch noch geschafft, einen kleinen Militärlastwagen mit Fahrer zu bekommen . Einige Kisten und Koffer passten neben uns drei Kindern und zwei Müttern darauf, mehr ging nicht. Und so verließen wir den Fliegerhorst - wie sich später herausstellte, für immer. Damit war meine Kindheit beendet .

Auf der Fahrt wurden wir bei Vienenburg im Wald von Tieffliegern angegriffen und mussten hinter dem Auto und noch nicht belaubten Sträuchern Schutz suchen. Zum Glück ist uns nichts geschehen und nach nicht so langer Fahrt kamen wir in Rübeland an. Ich sehe noch die erstaunten Augen meines Großvaters vor mir – er war im ersten Augenblick nicht sehr erfreut über diese Einquartierung ,die sein ruhiges Leben total umkrempelte. Da mein Großvater im ersten Weltkrieg verwundet wurde und die rechte Hand steif war, brauchte er nicht Soldat werden.

Aber schon bald ging es auch in dem bis dahin so ruhigen Harzdörfchen los mit Flugzeuglärm von Tieffliegern und Abwehrgeschützen. Die Bevölkerung musste in den beiden Tropfsteinhöhlen Schutz suchen. Tief im Berg zwischen Stalagmiten und Stalagtiten gab es in der Baumannshöhle einen großen Saal, einen See und eine Naturbühne, die früher zu Theateraufführungen genutzt wurde. Hier saßen wir auf Decken und Kissen, mit Sack und Pack etliche Tage und Nächte; das heißt, wir wussten gar nicht, ob es Tag oder Nacht war. Es war immer dunkel und nass, denn es tropfte laufend von der Decke, die Kerzen verlöschten ,denn bald schon war der Strom ausgefallen. Ab und an kamen Nachrichten von draußen – es wurde gekämpft. Irgendwann aber hieß es : die Amerikaner sind da – ihr dürft raus. Es war der 20.April, ein herrlich warmer Tag, die Sonne blendete uns und es roch nach Frühling. Ich werde diesen Frühlingstag nie vergessen. Aber direkt neben dem Haus, in dem wir wohnten, stand ein großer Panzer und davor ein Schwarzer in einer bräunlichen Uniform mit einem für mich komischen Stahlhelm. Ich war fasziniert, hatte aber auch Angst. Aber uns geschah nichts – lediglich meine Mutter wurde abkommandiert zum Uniformen bügeln – Nachbarn hatten sie als Offiziersfrau verraten. Das hatte zur Folge, dass wir Essen und Schokolade bekamen.

Eines Nachts klopfte es an unsere Korridortür und 2 deutsche Wehrmachtsoffiziere, Bekannte meiner Eltern, suchten Einlaß – sie waren sehr müde und hungrig. Sie hatten in der Gegend gekämpft und waren hinter die Frontlinien geraten. Das war natürlich für uns gefährlich und so mussten sie auf den Boden in einen Verschlag unterkriechen . Heimlich brachte ich ihnen Essen und musste aufpassen, dass es in dem Dreifamilienhaus niemand bemerkte. Es war schon eine makabere Situation – unten im Wohnzimmer holten amerikanische Offiziere ihre Uniformen ab und oben auf dem Boden saßen deutsche Offiziere. Nach kurzer Zeit wurden sie mit Zivilkleidung versehn und verließen nachts ungesehen das Versteck.

Am nächsten Tag sah ich sie mit anderen Gefangenen unter Bewachung amerikanischer Soldaten die Straße entlang gehen. Ich durfte natürlich nichts sagen, aber es war ein trauriger Anblick. Wir haben leider nie wieder etwas von ihnen gehört. Erst sehr viel später habe ich über die erbitterten Kämpfe um die „Festung Harz" gehört. Wir hatten also versprengte Offiziere beherbergt. Das hätte für uns sehr gefährlich werden können.

Nach ungefähr drei Wochen zogen die amerikanischen Truppen ab und wurden von Engländern ersetzt. Wieder andere Uniformen, Stahlhelme, Mützen und Abzeichen. Meine Mutter musste keine Uniformen mehr „ strafbügeln"- aber Sonderrationen Essen und Schokolade gab es auch nicht mehr. Die Engländer waren strenger, der Ton gegenüber der Bevölkerung rauher. Doch schon bald hieß es, dass unser Gebiet russische Besatzungszone werden sollte. Es herrschte große Angst und Aufregung und viele Leute zog es weg gen Westen. Auch unsere Flüchtlingsfrau aus Danzig und ihr kleiner Sohn verließen uns . Sie haben sich nie wieder gemeldet. Meine Mutter aber blieb mit uns zwei Kindern in Rübeland. Sie hatte erfahren, dass unsere Wohnung auf dem Fliegerhorst ausgeplündert war und wusste nicht wohin. Am 4.Juli 1945 kamen kleine Pferde vor Panjewagen in unseren Ort. Soldaten mit Schlitzaugen in ziemlich zerlumpten Uniformen brüllten mit unverständlichen Kehllauten Kommandos. Sie hatten so gar keine Ähnlichkeit mit den auf dem Fliegerhorst gefangenen russischen Soldaten, die abends vor der Kaserne so schön-traurige Lieder sangen. Diese Russen als Besatzer verbreiteten Angst und Schrecken und eine sehr schlimme Zeit begann.

Neben all den Sorgen um die tägliche Versorgung war besonders schlimm, dass keine Nachricht über den Verbleib meines Vaters kam. Alle Suchmeldungen blieben erfolglos. Oftmals weckte mich nachts meine Mutter, weil sie Klappern von Holzschuhen hörte und hoffte, es könnte mein Vater sein, der aus Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Ich glaube, dass eine Vermisstenmeldung schlimmer ist, als eine Todesnachricht. Lebenslang nimmt die Hoffnung kein Ende. Ich wurde die Vertraute meiner Mutter und trug alle Hoffnungen und Enttäuschungen mit. Ihr früherer Status im Dorf war ein völlig anderer geworden. Sie wurde als Frau eines Kriegsverbrechers bezeichnet und so zog sie sich ganz zurück. Sie war wieder Tochter bei meinem Großvater, versorgte den Haushalt und uns beide Mädchen, die so lange Zeit zu Außenseitern wurden.

Mein Goßvater, ein einfacher, wortkarger Harzer, übernahm wie selbstverständlich die Rolle des Familienoberhauptes und wurde für mich zu einer prägenden Figur. Oftmals löste er mich aus der Umklammerung meiner Mutter und zog mit mir in den Wald zum Holzholen, Beeren und Pilzesammeln. Er machte mich aufmerksam auf Pflanzen und Tiere und lehrte mich die Ruhe und Erhabenheit des Waldes zu respektieren. Auch sehr viel später noch zog es mich immer wieder in den Wald, wenn die häusliche Atmosphäre eng wurde oder ich Sorgen und Probleme hatte.

Ich habe versucht, diese Erfahrungen an meine Kinder weiterzugeben. Und als sie fragten, weshalb sie keinen Großvater hätten – manche hätten sogar zwei- erzählten wir ihnen, dass auch der Vater ihres Vaters am letzten Kriegstag in Hildesheim gefallen ist und er mit noch drei Brüdern und seiner Mutter ein ähnliches Kriegsschicksal erfahren mussten. Es bedurfte keiner großen Beeinflussung mehr auf unsere beiden Söhne, dass sie Zivildienst ableisteten und zusammen mit unserer Tochter sich in Friedensbewegungen engagierten

Mein ganzes Leben war ich immer wieder auf der Suche nach meinem Vater mit Fragen, "was hast du gemacht, was hast du gedacht, wo bist du geblieben"? Als mein Mann und ich einmal vor vielen Jahren auf einer Studienreise durch den Kaukasus gefahren sind, erzählte ein Mitreisender, dass er hier diese bestimmte Straße als Gefangener mitbauen musste. Sofort fiel mir mein Vater ein – ob er vielleicht auch hier war? In Kiew dann lud uns im Hotel eine russische Hochzeitsgesellschaft zum Mitfeiern ein und erzählten uns im Laufe des Abends von den schrecklichen Kämpfen und den Verlusten in ihren Familien im Krieg. Ich war ganz kleinlaut und beschämt, weil ich wusste, dass von hier Feldpost zu uns kam. Was hat mein Vater hier gemacht? Schließlich verabschiedeten sich alle mit dem Wunsch „Nie wieder Krieg". Wir hatten also alle schreckliche Erfahrungen gemacht und waren glücklich, jetzt im Frieden Urlaubsbegegnungen haben zu können und uns kennen zu lernen..

Vor einigen Jahren kamen mein Mann und ich von einer Urlaubsreise durch Frankfurt – ich wollte unbedingt die Wehrmachtsausstellung sehen. Es war wohl die erste und noch nicht überarbeitet. Ich hatte Angst .vor dem, was mich erwartete und große Befürchtungen auf Fotografien meinem Vater oder anderen Bekannten vom Fliegerhorst zu begegnen. So ging ich beklommen von einer Stellwand zur anderen - ich fand ihn nicht. Einerseits war ich sehr erleichtert, andererseits schämte ich mich abgrundtief für die Gräueltaten unserer einst so gelobten Wehrmacht.

Es ist noch immer so, dass mich meine Kindheitserinnerungen nicht loslassen .Sie haben mein ganzes Leben beeinflusst und meine Abneigung gegen jegliche Uniformen und Krieg geprägt.