Zeitzeugenberichte    - Ausbildung und Beruf -

 

Werner                                                                                                                      

   

                                                           
 
Als Schüler erlebte ich die Krieg und Nachkriegszeit  (1940 - 1952)                   Bielefeld, den 31. Januar 2005  

Einleitung: Anlaß für diesen Erlebnisbericht war der heutige Besuch in einer Bielefelder Gesamtschule. Sechs Zeitzeugen stellten sich den Fragen zweier 10. Klassen des Gymnasialzweiges mit etwa 60 Schülerinnnen und Schülern. Thema: Kindheit und Schulzeit im Deutschland des Nationalsozialismus - meine Erlebnisse, Erfahrungen und Empfindungen. Eine gleichartige Veranstaltung hatte im Dezember 2003 schon einmal mit anderen Schülern stattgefunden. Das positive Echo damals wie heute hat mich dazu angeregt, meine Schülerzeit im und nach dem Zweiten Weltkrieg schriftlich festzuhalten.

I.  Kindheit im Krieg (Schule 1940 - 1944)

Als der Krieg im September 1939 ausbrach, befand ich mich für sechs Wochen in einem Breslauer Krankenhaus. Als Fünfeinhalb- jähriger lag ich mit Diphtherie und Scharlach in der Quarantäne - Kinderstation in einem großen Krankensaal für etwa 20 Jungen. Ich habe noch jenes Spottlied im Ohr, das von einigen Jungen zur bekannten Melodie „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“ gegrölt wurde: ...und wenn das ganze England brennt / und Chamberlain im Nachthemd rennt. / Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern - / Chamberlain, Chamberlain ohne Hemd! //

Ein halbes Jahr später, am 1. April 1940, wurde ich eingeschult. Ich war noch nicht ganz sechs Jahre alt. Die Schule, ein riesiger dunkelroter Ziegelbau in wilhelminischem Gefängnisstil, lag direkt gegenüber unserer Wohnung im Zentrum von Breslau. Das Gebäude ist von Kriegseinwirkungen verschont geblieben und wird im heutigen Polen noch immer als Schule genutzt. - Unsere ersten Schreibübungen machten wir mit einem Schieferstift auf einer Schiefertafel. Die Schieferstifte wurden in einem hölzernen Griffelkasten aufbewahrt. Schwämmchen und Läppchen waren an einem Bändchen befestigt und schauten seitlich aus dem Tornister heraus. Sie schwangen beim Laufen lustig hin und her. Die älteren Schüler riefen uns den Spottvers hinterher: „Achteklecker, Tafellecker, Auslöscher, Wiederschreiber, Sitzenbleiber!“ (Wenige Jahre zuvor zählte man die Klassen rückwärts, so daß die heutigen Erstkläßler damals Achtkläßler hießen). Wir lernten die sog. „Deutsche Schreibschrift“, auch Sütterlin genannt, und hatten dazu eine bebilderte Fibel. Jede Seite, manchmal auch zwei, behandelte einen Buchstaben. Die anfängliche Reihenfolge habe ich bis heute behalten:  i (für i-Männchen) - u - s (das „lange“ s im Gegensatz zum  Schluß-s) -  m  -  o  -  a  -  e  -  l  -  ei  -  n  -  au  -  r  -  w  -  f   usw.

Im Klassenraum hing eine Wachstafel mit den Klein- und Großbuchstaben des deutschen Alphabets. Dazu gab es eine schwarze hölzerne Wandtafel mit weißer Kreide. Das Lesen lernten wir durch Zusammensetzen der Buchstaben zu Wörtern, also nach der synthetischen Methode. Der Klassenraum hatte große, teils vergitterte Fenster. Die unteren Scheiben bestanden aus Mattglas oder waren weiß angestrichen, so daß man nicht hinaussehen konnte. Wir hatten sogar schon Dampfheizungen mit großen Heizkörpern, die im Winter morgens laut zischten. Wir saßen auf Vierersitzbänken mit schräggestellter Schreibfläche, für je zwei Schüler in der Mitte eine Vertiefung mit einem gefüllten Tintenfaß. Wenn die Lehrerin oder der Lehrer mit uns den Klassenraum betrat (wir gingen zu zweit), mußten wir den Tornister ablegen, stehenbleiben, strammstehen und auf den Lehrergruß im Chor mit „Heil Hitler“ antworten. Im Unterricht mußte der Schüler bei jeder Antwort aufstehen. Es gab noch die Prügelstrafe mit dem Rohrstock, meist auf die ausgestreckte Hand, manchmal auch auf den Hosenboden. In meiner ganzen Schulzeit im Kriege war ich nur in reinen Jungenklassen; erst nach dem Krieg lernte ich gemischte Klassen kennen. Wir hatten eine sog. „Rechenmaschine“, ein Abakusgerüst mit 100 Kugeln in 10 Reihen,  jede Reihe in 2 mal 5 blaue und rote Kugeln unterteilt und verschiebbar, in groß für die Klasse und in klein für den einzelnen Schüler. So erlernten wir das dezimale Zahlensystem im Hunderterraum.

Das erste Schuljahr dauerte für mich 1 ½ Jahre, denn ab 1941 begann das Schuljahr im Herbst. Gleichzeitig wurde die lateinische Ausgangsschrift eingeführt und beibehalten, vermutlich um das deutsche Schulwesen bei den vielen Siegen zu internationalisieren. Im allgemeinen blieb die Schiefertafel bis zum Ende des 1. Schuljahres, erst ab Klasse 2 wurde das Schreibheft eingeführt, aber mit Bleistift geschrieben. Von Klasse 3 an durfte mit dem „Federhalter“ und einer Stahlfeder mit Tinte aus dem Tintenfaß geschrieben werden. Meist hatten wir Lehrerinnen und ältere Lehrer. Jüngere Lehrer waren an der Front oder in Ausnahmefällen „wehruntauglich“ im Schuldienst geblieben. Oft holte man pensionierte Lehrer in die Schule zurück. Die hatten es trotz äußerer Strenge manchmal nicht leicht mit uns. Ich erinnere mich an meine Klasse 3 mit über 50 teils frechen und auch etwas verwahrlosten Jungen, die Väter Soldat, die Mütter berufstätig und den Arbeitsplatz ihrer Männer ausfüllend. Unser 70jähriger Klassenlehrer wurde überhaupt nicht mit uns fertig, Brüllen oder wahllose Stockschläge halfen nicht, zu schnell konnten die Störenfriede ein harmloses Gesicht aufsetzen. Oft mußte der Rektor geholt werden, um für die Dauer seiner Anwesenheit die Ruhe wiederherzustellen. Die Aufsicht im Sportunterricht in der Turnhalle oblag einem anderen Pensionär. Während wir Leitern und Stangen hochklettern sollten, schlief er kurzzeitig immer wieder ein, bis er dann den nächsten „Befehl“ gab. Die schlechten Schüler im Klassenunterricht, oft als Sitzenbleiber überaltert, waren meist die besten Sportler und umgekehrt. Ich gehörte zu den letzteren.

Sportlichkeit als Vorstufe zur Wehrertüchigung und Kennzeichen des„deutschen Jungen“ stand hoch im Kurs, nicht nur in der Schule, sondern später auch beim Deutschen Jungvolk, den sog. „Pimpfen“ (10 - 14 Jahre alt) und erst recht danach bei der HJ, der Hitlerjugend (14 - 18 Jahre), schließlich beim RAD, dem Reichsarbeitsdienst (ab 18 Jahren). So wurde der manipulierte Jugendliche von Altersstufe zu Altersstufe „weitergereicht“.

Sprüche und Parolen gab es zahlreich. Beispiele: „Spare, lerne, leiste was, / dann hast du, kannst du, bist du was.“ (Auf einer Sparkarte für Schüler) - „Ein deutscher Junge weint nicht.“ - „Ein deutscher Junge trägt keinen Regenschirm.“ - „Die deutsche Jugend muß schlank und rank sein, flink wie die Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl.“ (Ausspruch des „Führers“) - „Führer befiehl, wir folgen!“ - „Wenn das der Führer wüßte!“ - „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ - „Pst! - Feind hört mit!“ (Damit waren nicht etwa Spitzel oder gar die Gestapo gemeint, sondern etwaige Spione) - „Räder müssen rollen für den Sieg!“ (Volksmund hinter vorgehaltener Hand: „...und Kinderwagen für den Krieg!“) - „Es ist hier so laut wie in einer Judenschule!“ - „Immer diese jüdische Hast!“ - „Wetten tut der Jude, wenn er kein Geld mehr hat.“ - „Die Juden sind unser Unglück! Sie haben den Krieg angezettelt.“

Diffamierung und Ausgrenzung besonders der Juden zeigte sich an einem Kindheitserlebnis. Ich ging im Herbst 1941 oder 1942 mit meiner Mutter auf einer Hauptstraße spazieren. Uns begegneten viele Juden, die den gelben Stern trugen. Wahrscheinlich war es das Laubhüttenfest. Auf meine Frage, warum die Leute diesen Stern trugen, antwortete meine Mutter: „Damit man sie als Juden erkennt.“ Ich bohrte weiter: „Warum soll man sie denn als Juden erkennen?“ Antwort: „Weil sie anders sind als wir.“ - „Wie sind sie denn anders?“ - Meine Mutter beendete die Fragerei: „Frag nicht so viel! Das verstehst du noch nicht.“ Damit wich sie aus, wußte aber wohl selbst nichts Genaues. Ich hatte keine jüdischen Mitschüler, merkte aber die Judenverachtung. Weder ich noch meine Eltern wußten etwas von Deportationen und Lagern. Selbst wenn wir gerüchteweise etwas erfahren hätten, dann hätten wir aus Angst geschwiegen. In einer Diktatur gibt es keine freie Meinungsäußerung, dagegen genügend Spitzel und Denunzianten. Das galt auch für das Abhören von Feindsendern und war streng verboten. Zeitung, Radio und Film wie die „Deutsche Wochenschau“ waren gleichgeschaltet und zensiert. Für heutige Jugendliche ist es nur schwer vorstellbar, daß Medienvielfalt und Informationsfluß im damaligen Deutschland noch nicht existierten.

In den Sommerferien 1942 kam ich zur Kinder-Stadtranderholung durch die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt). Wir wurden täglich mit der Straßenbahn in einen Vorort am Oderufer gebracht und mit Sport und Spielen, Liedern und Wanderungen sowie gemeinsamen Mahlzeiten betreut und dabei - wie auch in der Schule - unmerklich beeinflußt. Im Frühjahr 1944 durfte ich als Zehnjähriger „endlich“ zum Deutschen Jungvolk und nun eine Uniform tragen. Der Dienst am Mittwoch- und Samstagnachmittag war eine „Ehrenpflicht“ und bestand aus Exerzieren, Marschieren, Liederlernen und Singen, aus sportlichen Übungen und Geländespielen, aus Schulungs- und Informationsnachmittagen. Die anfängliche Begeisterung wich bald einer immer stärker werdenden Abneigung, schon allein deshalb, weil ich nicht besonders sportlich war und so gar nichts von einem „deutschen Jungen“ an mir hatte. An einem Wochenende marschierten wir etwa 20 km in ein entlegenes Dorf und übernachteten „zünftig“ in einer Scheune. Mitten in der Nacht gab es Alarm und wir mußten in einem Geländespiel bei Vollmond entflohene Fremdarbeiter (verkleidete HJ-Führer) wieder „einfangen“. Erschöpft von den langen Märschen bei Hitze und mit Gepäck kehrten wir am Sonntagabend in die Stadt zurück.

Im Herbst 1944 wurde eine Großkundgebung der HJ in der Breslauer Jahrhunderthalle veranstaltet. Gauleiter Hanke hatte die Hitlerjugend der Stadt einschließlich des Deutschen Jungvolks versammelt, um zum Kampf für den „Endsieg“ und zähen Durchhaltewillen aufzurufen. Die Begeisterung in der Halle mit Sprechchören und Kampfesliedern war schon spürbar, auch für mich, wenn sie mich auch nicht anzustecken vermochte. Aber das durfte man auf keinen Fall zeigen. Der Fanatismus auf einigen Gesichtern ist in einem kürzlich gezeigten Fernseh-Dokumentarfilm heute noch zu sehen.

In meinem letzten Volksschuljahr in Klasse 4 ist mir noch der Fahnenappell auf dem Schulhof zu „Führers Geburtstag“ am 20. April 1944 in Erinnerung. Ab und zu gab es auch am Tage Fliegeralarm. Der Unterricht wurde sofort abgebrochen. Ich konnte nach Hause rennen, weiter entfernt wohnende Schüler mußten in den Schul-Luftschutzkeller. Breslau galt als der „Luftschutzkeller Deutschlands“. Während westdeutsche Großstädte schon längst in Schutt und Asche lagen, waren wir von Bombenangriffen weitgehend verschont geblieben. Bis zum Sommer 1944 war auch noch ein geordneter Schulbetrieb möglich. Da gab es im Westen schon lange die Kinderlandverschickung.

Nach den Sommerferien 1944 wurde ich nach einer Prüfung in eine Mittelschule umgeschult. Ich hatte aber nur wenige Wochen Unterricht in einer Klasse 5, wieder nur für Jungen. (Wahrscheinlich gab es zu dieser Zeit überhaupt keine gemischten Klassen.) Wir hatten z. B. Englisch, lernten also trotz allem noch die „Sprache des Feindes“. Dann aber kam die Evakuierung, auch eine Form der Kinderlandverschickung, nur mit anderem Namen. Allerdings konnten meine Eltern ihre Zustimmung aus gesundheitlichen Gründen verweigern, und ich blieb von der Trennung vom Elternhaus verschont. Die Schule wurde geschlossen. - Ich konnte nach einiger Zeit „Ferien“ für etwa sechs Wochen noch eine andere Mittelschule im Westen der Stadt besuchen. Als aber im Januar 1945 Breslau vor der heranrückenden Roten Armee evakuiert wurde, hörte auch in dieser Schule der Unterricht auf. Bei Kriegsende hatte ich bereits ein Schuljahr verloren. Auf Grund der Vertreibung mußten wir im März 1946 Breslau verlassen und kamen in ein Dorf in Niedersachsen. Als dann für mich im April 1946 die Schule in Klasse 5 einer Mittelschule wieder begann, war ich zwei Jahre überaltert. Nach dem dramatischen Ende meiner ersten Schulzeit war das ein neuer, bescheidener Anfang.

II.   Jugend nach dem Krieg (Schule 1946 -1952)

Bei meiner Wiedereinschulung Ostern 1946 stellte sich die Frage, ob ich nicht eine Klasse überspringen und auf Grund meines Alters in Klasse 6 kommen sollte. Aber ich traute mir das nicht zu, weil zu große Lücken entstanden waren und ich sogar das schriftliche Malnehmen und Teilen wieder verlernt hatte. Meine Schwester kam als Achtjährige in Klasse 1 unserer Dorfschule, während ich als Zwölfjähriger in die Klasse 5 der Mittelschule des Nachbardorfes ging. Mein täglicher Schulweg zu Fuß betrug 10 km hin und zurück. Ich brauchte etwa eine Stunde und verließ jeden Morgen um 6.45 das „Haus“.

Das war ein Zimmer von 18 qm für 4 Personen, das uns unser Bauer abgetreten hatte, seine „gute Stube“, die nur an Feiertagen benutzt wurde und für ihn am ehesten entbehrlich war. Wir schliefen auf Strohsäcken, holten Wasser von der Pumpe, kochten auf einem Herd, der im Winter zugleich heizte, und hatten als Beleuchtung eine selbstgebastelte Petroleumlampe. Meine Mutter - früher in einem Büro tätig - lernte das Kühemelken und bekam dafür täglich 2 Liter Milch. Wir ernährten uns außerdem hauptsächlich von Kartoffeln und den spärlichen Lebensmittelmarken. -

Die ersten Monate in der Schule waren gekennzeichnet von ärmlichen Verhältnissen. Zwei Jahrgänge wurden in einem Klassenraum unterrichtet. Es gab nur wenige Glasscheiben, die meisten Fenster waren mit Holzpappe vernagelt. Bei Regen mußte die Sitz-ordnung geändert werden, weil es an einigen Stellen durch die Decke tropfte (schadhaftes Dach). Wir hatten anfangs nur 2 bis 3 Stunden am Tag, und zwar die drei Hauptfächer Deutsch, Englisch und Mathematik, so daß mein Schulweg manchmal länger dauerte als die Unterrichtszeit. Es gab keine Bücher und kein Papier. Ich hatte zuerst nur einen Bleistift in meinem Papptornister. Zum Schreiben dienten entweder Zeitungsränder oder später Schreibhefte aus schlechtem Altpapier, auf dem die Tinte sofort wie auf Löschblättern verlief. Ein Schreibheft kostete 5 Reichsmark und 1 Ei. Deshalb ging man mit der Papierfläche auch sehr sparsam um. Bei unserer ersten Lehrerin hatten wir Deutsch und Englisch, beim Rektor Mathematik. In Deutsch lernten wir viele Gedichte. Ich erinnere mich an die Ballade „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff. Da unser Dorf am Rande eines Moores lag und wir jedes Jahr im Mai Torf stechen mußten, hatten wir zu diesem Gedicht eine besondere Beziehung. Ich habe es total verinnerlicht und kann es bis heute auswendig. Wie allgemein bekannt, wurde in der damaligen Schule viel mehr auswendig gelernt. Wir hatten keine Ablenkung durch Radio, Musik, Fernsehen, Reklame und Straßenlärm, so daß unser noch junges Gedächtnis viele Lernstoffe durch akustisches Memorieren wie ein Schwamm aufsaugte. -

Vieles in der Schule von 1946 bis 1948 erklärte sich durch die besonderen alltäglichen Lebensumstände als „Leben auf dem Dorf“. So begann der Jahreskreislauf im April mit dem Anbau von Gemüse. Dazu stellte uns unser Bauer ein Stück gedüngtes Ackerland zur Verfügung. Wie schon erwähnt, folgte der Mai mit dem Torfstechen im nahegelegenen Moor, wertvolles Brennmaterial für den nächsten Winter. Im Juni und Juli waren die Blaubeeren reif. Wir bekamen in den ersten beiden Jahren für ein Pfund Blaubeeren entweder 5 Reichsmark oder 1 Ei, für einen Eimer sogar ein Pfund Speck. Die Bauern hatten wegen ihrer Feldarbeit und der Heuernte keine Zeit zum Selberpflücken.

In den ersten Nachkriegsjahren kamen zur Blaubeerzeit auch viele Großstädter aus dem Ruhrgebiet, die sog. „Hamsterer“, in den Wald, um Blaubeeren zu pflücken und sogar zu „kämmen“. Blaubeerkämme waren verboten, weil sie die Pflanzen beschädigten. Die übrige Zeit des Jahres zogen die Hamsterer von Bauernhof zu Bauernhof, um letzte Habseligkeiten, die der Bombenkrieg übriggelassen hatte, gegen Lebensmittel einzutauschen. Manche Gegenstände stammten vom Schwarzmarkt, eine amerikanische Zigarette kostete etwa 5 Reichsmark. Im übrigen galt die sog. „Speckwährung“, zum Beispiel ein Herrenanzug oder ein Fahrrad für jeweils 10 Pfund Speck. Wer nichts hatte, ging singend betteln und bekam für zwei oder drei Lieder, manchmal mit einem Instrument begleitet, ein paar Kartoffeln oder gar ein Ei. Die Bauern als Erzeuger von Lebensmitteln waren in diesen Hungerjahren die Könige der Gesellschaft. Aber sie lebten auch gefährlich. Oft gab es nächtliche Raubüberfälle auf einsam gelegene Gehöfte mit Speck, Fleisch und Wurst als Beute. Schwarzschlachten (über das erlaubte Maß hinaus) war verboten. Unser gutmütiger Bauer wurde einmal denunziert und mußte für sechs Wochen ins Gefängnis. Beim ebenfalls verbotenen Schwarzbrennen von Schnaps bestand zusätzlich Vergiftungsgefahr durch Metylalkohol.

Im weiteren Verlauf des Jahreskreises kam für uns nach der Roggenernte das sehr mühsame Ährenlesen. Der Rücken schmerzte oft - wie beim Blaubeerensuchen - und die Fingernagelbetten stießen sich an den harten Stoppeln manchmal wund. Die Ähren wurden ziemlich lose in einem zugebundenen Sack mit einem Knüppel „gedroschen“. Durch geduldiges Pusten trennten wir dann die sprichwörtliche „Spreu vom Weizen“, d. h. von den Roggenkörnern. Weizen gedieh auf dem Sandboden nicht. Für ein Pfund Körner bekamen wir beim Bäcker ein Pfund Brot. Im Oktober war dann die Kartoffelernte. Anfangs gingen wir „Kartoffelstuppeln“, d. h. wir sammelten die vereinzelt liegengebliebenen oder ins Erdreich gedrückten Kartoffeln auf, eine ebenfalls mühselige Arbeit. Später verdienten wir uns in der Kartoffelernte als Kinder einen halben Zentner Kartoffeln in 6 bis 7 Stunden Akkordarbeit. Dazu gab es Vesperbrot und eine warme Abendmahlzeit.

Das alles hatte auch sehr viel mit Schule zu tun. Im Frühjahr mußten wir Birkenblätter für Tee sammeln. Im Frühsommer ging es auf die Kartoffelfelder, um Kartoffelkäfer und besonders die Larven einzusammeln und zu verbrennen. Es gab schulfrei oder hausaufgabenfrei oder gar eine Geldprämie. Die Sommerferien hießen Ernteferien und dauerten nur 3 Wochen. Die Herbstferien hießen Kartoffelferien und dauerten ebenfalls 3 Wochen. Zum Schulweg ist noch einiges zu sagen. Die Schuhe, die wir aus der Heimat mitgebracht hatten, waren bald zu klein und wegen der schlechten Qualität auch nicht mehr zu reparieren. So ging ich im Sommer barfuß, ein gutes Training zur Abhärtung der Fußsohlen. Im Winter trug ich Holzschuhe, die hier üblicherweise getragen wurden, auch weil es keine Lederschuhe zu kaufen gab. Bei Schnee wurde das Gehen schwierig, denn der Schnee klebte unter den Holzsohlen fest. Die „Hölzken“ hielten etwa 4 Wochen, dann waren sie durchgelaufen und mußten durch neue ersetzt werden. Jeden Samstag bekam man um 8 Uhr beim Holzschuhmacher im 5 km entfernten Nachbardorf 1 Paar pro Person zu kaufen. Um 5.30 Uhr mußte man sich anstellen, um überhaupt welche zu kriegen. Und so marschierte ich mit meiner Schwester jeden Samstagmorgen um 4.30 Uhr los.Unsere Eltern brauchten schließlich auch Holzschuhe. Zum Glück hatte ich samstags erst zur 2. Stunde Schule, dann aber bis mittags wie an jedem anderen Werktag der Woche.

Ostern 1947 verließ unsere erste Lehrerin die Schule und wurde in einem benachbarten Landkreis Schulrätin. Zu uns kam eine neue Lehrerin für Deutsch und Englisch, die bis zum Ende meiner Schulzeit 1952 bei uns bleiben sollte. Ich sehe sie noch vor mir wie am ersten Tag: Eine sechzigjährige Erscheinung, die sofort eine natürliche Autorität ausstrahlte, ziemlich kurz geschnittenes, graues, welliges Haar, dunkelblaues Kleid und dazu - unvergeßlich - ein Paar helle, naturfarbene, verzierte Holzschuhe, weil es eben keine Lederschuhe mehr gab. Die neue Lehrerin stammte wie ich aus Schlesien und war dort eigentlich Oberschullehrerin gewesen, für unsere Mittelschule eine etwas zu große Kragenweite. Sie konnte interessant erzählen, und auch bei ihr lernten wir in Deutsch viele Gedichte und Balladen auswendig. Sie hatte besonders die pubertierenden Jungen, die sie später um Haupteslänge überragten, „voll im Griff“. Ihre menschliche Seite ist mir gut in Erinnerung geblieben. Sie nahm Anteil am Dorfleben, besuchte die Veranstaltungen der „Flüchtlinge“ und Einheimischen mit Laienspiel, Volksliedern und Gedichten und gab uns armen Schluckern sogar noch ein paar Groschen „Kirmesgeld“ zum Karussellfahren.

Im Winter stand ein Kanonenofen im Klassenraum. Jeder Schüler mußte zwei Stück Torf oder eine Handvoll Brennholz mitbringen, das wir im Wald gesammelt hatten. Über dem Ofenschirm hingen unsere vom Schnee naßgewordenen selbstgestrickten Socken aus Schafwolle. Für den Unterricht hatten wir vorsorglich trockene Ersatzsocken mitgebracht. Vor Weihnachten 1947, als es fast nichts mehr gab, faßten wir Schüler den Entschluß, unserer Lehrerin einen echten schlesischen Streuselkuchen zu schenken. Die Bauernkinder besorgten die Zutaten wie Butter, Zucker und Mehl, und mein Vater übernahm die Zubereitung. Morgens um sechs wurde der Kuchen beim gegenüberliegenden Bäcker gebacken, gegen sieben trug ich auf einem kleinen Backblech das duftende Klassengeschenk 5 km zu Fuß vor mir her zur Schule. Zum Glück lag kein Schnee. Wenn ich nun gestürzt wäre? Nicht auszudenken! Die Überraschung auf dem Lehrertisch war unbeschreiblich und die Reaktion - waren Freudentränen.

Das Jahr 1948 brachte in der ersten Hälfte den Tiefpunkt der Versorgung auf Lebensmittelmarken. Es gab krümeliges Maisbrot, braunen Rohrzucker und selbstgemachten trockenen Quark. Manchmal verdiente ich mir durch Hausaufgaben oder Nachhilfe in Mathematik von einem Bauernsohn ein Wurstbrot, manchmal holte ich mir ein weggeworfenes eingewickeltes Butterbrot aus dem Papierkorb! Hier Hunger, dort Übersättigung. - Manchmal sollte ich einem Bauern ein Medikament aus der Apotheke mitbringen, die es nur im Dorf meiner Schule gab. Botenlohn war ein Schinkenbutterbrot, das dann zu Hause sorgfältig durch 4 geteilt wurde.

Die Währungsreform im Juni veränderte allmählich unser Leben. Das neue Geld war zwar knapp, aber wertvoll mit zunehmender Kaufkraft. Die Blaubeeren verkauften wir bald für 25 bis 35 Pfennig das Pfund, 500 g Pfifferlinge brachten sogar schon etwas mehr als 1 Deutsche Mark. Im September suchten wir Brombeeren für 30 Pfennig, ab Oktober 1948 Bucheckern, die klein und leicht waren, aber wegen des Bucheckernöls mit 60 Pfennig für das Pfund ganz gut bezahlt wurden, für uns eine Zusatzeinnahme.

Im Herbst ging ich zum Konfirmandenunterricht. Das ergänzte und erweiterte den Religionsunterricht in der Schule. Auch hier mußten wir mehrere Kirchenlieder sowie aus Luthers Kleinem Katechismus mit Erklärungen vieles auswendig lernen. Das Lied von Paul Gerhardt „Befiehl du deine Wege“ hat 12 Strophen, die wir nach und nach lernen mußten. Zweimal in der Woche ging ich meinen Schulweg noch einmal am Nachmittag. So konnte ich beim Gehen in der Stille den Text in Ruhe memorieren. Gelegentlich rumpelte ein Pferdewagen in gemächlichem Tempo daher. Er war auch nicht schneller als ich, und so ging ich lieber zu Fuß als mich mitnehmen zu lassen. - Bei der Prüfung in der Kirche mußten wir vor der versammelten Gemeinde unser abfragbares Wissen unter Beweis stellen. Die Konfirmation im April 1949 war ein ganz besonderer Tag. Mein Konfirmationsanzug, maßgeschneidert, begann mir schon am Festtag zu klein zu werden. Er „bestand“ übrigens aus Bucheckern, die wir im Herbst gesammelt und verkauft hatten. Unser katholischer Bauer bot uns seinen Sonntags-Pferdewagen an und brachte uns die 5 km zur evangelischen Kirche. Das habe ich ihm nie vergessen. Ich bekam 2 große Geschenke: Eine lederne Aktentasche für die Schule und ein gebrauchtes Fahrrad für 60 DM. Die Fußgängerzeit war nun nach drei Schuljahren zu Ende. In der zweiten „Halbzeit“ war ich - wie alle anderen Schüler auch -  stolz mit dem Fahrrad unterwegs, und zwar ungefähr 30 Minuten. Nach dem Unterricht trug ich auf dem Heimweg noch etwa 12 Tageszeitungen aus, um mir etwas Taschengeld zu verdienen. Jede Zeitung kostete monatlich 2,50 DM, davon bekam ich 50 Pfennig Botenlohn, also 6 DM im Monat. Beim Einkassieren gab es manchmal ein paar Groschen Trinkgeld, besonders zu Weihnachten. Bei einem Bauern konnte ich ab und zu einen Teller Eintopf zu Mittag mitessen.

Die letzten drei Schuljahre normalisierten sich immer mehr. Wir bekamen einen dritten Lehrer für Physik und Biologie. Auch Erdkunde und Geschichte konnte jetzt erteilt werden. Nach und nach gab es auch Bücher, das Papier in den Schreibheften wurde immer heller und glatter. In Klasse 8 unternahmen wir eine einwöchige Klassenfahrt mit dem Fahrrad in die Jugendherberge Osnabrück, noch mit wenigen Lebensmittelmarken. In Klasse 9 ging es mit der Bahn, dem Fahrrad und dem Schiff für eine Woche ins Weserbergland. Schließlich besuchten wir in der 10. Klasse zweimal mit dem Bus das Theater in Osnabrück. Ostern 1952 bestanden wir mit 10 Schülerinnen und Schülern die Abschlußprüfung und erhielten das Zeugnis der sog. „Mittleren Reife“. Ich war 18 Jahre alt. Wir wurden in das Berufsleben entlassen. Unsere 65jährige Klassenlehrerin ging mit uns aus der Schule und trat in den wohlverdienten Ruhestand. Wir haben sie 12 Jahre später auf einem Klassentreffen wiedergesehen. Da war ich -  ihr ehemaliger Schüler  -selbst schon Lehrer. Sie starb am 1. Mai 1968 mit 81 Jahren in Hannover.

Als Schüler erlebte ich hautnah „Schule im Wandel der Zeit“. Es war die Schule im Laufe der Geschichte in Deutschland und im Verlauf meiner eigenen Lebensgeschichte, und das innerhalb von nur 12 Jahren. Einmalige Erlebnisse mußten deshalb unbedingt aufgeschrieben werden.